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Nach dem vorzeitigen Höhepunkt der Serie in der letzten Folge widmen wir uns wieder der gesamten Stadt. In einer etwas plumpen Folge von The Leftovers ohne wirklichen Plot oder Höhepunkt gibt es aber viel über das Serienuniversum zu lernen.
Damon Lindelof hat es geschafft. Endlich. Nach Jahren zäher Debatten in den Kommentarspalten und Foren dieser Welt hat er eine Folge, zusammen mit Elizabeth Peterson, geschrieben, die tatsächlich so metaphorisch plump und stümperhaft daherkommt, wie ihm das die schlimmsten Kritiker vorwerfen. Böse Stimmen würden wahrscheinlich vermuten, dass es daran lag, dass diese Episode von The Leftovers nicht an Kritikerkreise im Voraus mit den anderen ersten fünf verschickt wurde. Stattdessen jedoch kam es zu Planungsproblemen. Regisseurin Lesli Linka Glatter musste aus terminlichen Gründen die Produktion für Homeland verlassen, House of Cards -Regisseur Carl Franklin sprang ein, es kam zu Verzögerungen und Reshoots. Dder Zuschauer bemerkt dies nicht. Ebensowenig wie die bewusste und hingebungsvolle Behandlung der zentralen Metapher der Folge. Ja, natürlich ist das Verschwinden des Christkinds eine plumpe Metapher, die nicht weiter ausgearbeitet wird. Das ist auch gar nicht das Ziel Lindelofs. Doch stattdessen die Reaktion der Figuren tiefer zu analysieren und der Intention der Autoren zu folgen, versagt die meiste Kritik und unterstellt der Serie unfairerweise eine unnahbare Oberflächlichkeit.
Die Folge beginnt zunächst einmal mit dem bisher besten Cold Opening des laufenden Fernsehjahres. Unterlegt zu „I’m Not The One“ von The Black Keys (clever!) begleiten wir die industrielle Produktion einer Babypuppe, die anschließend von der Stadtverwaltung gekauft und als Christkind im öffentlichen Krippenspiel des Marktplatzes platziert wird. In der Montage sehen wir die Reaktionen Mapletons: Tagsüber stehen die Mitglieder der Guilty Remnant Wache, nachts kommen die streunenden Hunde und allgemein gibt niemand mehr viel auf die vorweihnachtliche Zeit. Es ist ein Symbol für den Niedergang der traditionellen Religionen und eine kluge Weiterführung des Themas aus der letzten Folge. Auch wenn dies nicht der subtile Höhepunkt der Serienkultur ist, die Szene funktioniert und das zählt.
Jemand stiehlt das Baby, was kurzzeitig die Folge auf ein stumpfes Whodunit herabsenkt. Natürlich ist das Verschwinden des Christkinds eine Metapher für den Departure am 14. Oktober. Das ist plump, doch kein Grund die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Der viel interessantere Ansatz ist ohnehin zu hinterfragen, wie die Figuren darauf reagieren. Hier kann die Serie zwar kaum neue Punkte liefern, dafür aber die Fronten klarer definieren und die Figuren weiter straucheln lassen. Es ist klare Exposition für zukünftige Folgen. Leider handelt es sich hier um die eher uninteressanteren Figuren. Jill darf mit ihren Teenagerfreunden wieder zeigen, wie die Autoren auf peinliche Art und Weise mit jungen Figuren versagen. Die Bürgermeisterin bleibt weiterhin eintönig und Donna darf den Mund nicht aufmachen, obwohl man dank des großartigen Spiels von Ann Dowd eine komplexe Figur vermutet.
Immerhin kann Kevin in der Folge punkten. Nicht nur, dass er das Christkind wiederfindet, er kann auch einen kleinen Flirt mit Nora Durst verbuchen. Carrie Coon und Justin Theroux haben Chemie und geben das Highlight der Folge. Die brutale Offenheit dieser Welt, in der es nichts mehr zu verlieren gibt, agiert hier als Barriere wie auch Chance auf neue Entwicklungen.
Kevin darf sich weiter profilieren. Meg (eine bisher kaum genutzte Liv Tyler) besucht ihn mit Laurie, was beim Chief aufgeregte Freude auflöst, die im Keim erstickt wird. Laurie will die Scheidung, Kevin ist strikt dagegen. Wie bei mehreren Figuren fehlt uns leider hier die Motivation, um stärker mitzufühlen. Justin Theroux’ Spiel rettet die Szene und überschattet die unübersichtlichen Beweggründe. Laurie will die Scheidung und wirft das Geschenk weg, sie trauert aber nachts im Garten ihrem alten Leben nach und will das Feuerzeug doch insgeheim. Lindelof muss sich wohl gewehrt haben, denn laut eigener Aussage will er definitiv kein neues Lost. Aber eine Flashbackästhetik wie in der letzten Folge leuchtet die Figuren einfach besser aus als dieses nur langsam Sinn ergebende Puzzle – so sehr es sich auch thematisch und metaphorisch ergibt.
The One Thing You Can’t Replace
Es gibt da dieses großartige Stand-Up-Programm „New In Town” von Komiker John Mulaney, dessen höchst amüsantes Herzstück mit einer so krassen und unerwarteten Wendung aufwartet, dass er und auch die Zuschauer einfach nichts mehr dazu sagen können. Das Bit endet an der Stelle einfach. Mulaney erklärt darin, wieso er nichts mehr trinkt. Er erzählt von einer Party bei einem Schulfreund, an die er sich nicht mehr erinnern kann. Das Haus des Schulfreunds wurde verwüstet und sogar alte Photographien von Verwandten wurden gestohlen. Er fragt sich, ob er dafür selbst verantwortlich sein könnte und entschließt sich dazu, mit dem Trinken aufzuhören. Einige Jahre später trifft er auf einen alten Schulkameraden, der ebenfalls auf der Party war und ihm etwas zeigen will: Sein gesamter Kleiderschrank ist vollgeklebt mit Photos anderer Familien. Wieso? Weil diese Photos die einzigen Sachen sind, die man nicht ersetzen kann. „How fucked up is that?”
Very much. Deshalb muss Damon Lindelof wohl auch dieses Stand Up gesehen haben und auf die Idee gekommen sein, die Mitglieder der Guilty Remnant in die Häuser der Einwohner einbrechen und alle Familienphotos stehlen zu lassen, während die meisten sich auf dem Tanz vergnügen und betrinken. Natürlich ist es im Zeitalter der digitalen Photographie und der Cloud kein Problem mehr Photos zu ersetzen, aber es dürfte sich zum großen Teil um ältere Photos handeln, die womöglich extra beim Photographen oder analog entstanden sind. Kindheitsphotos von älteren „Departed“ dürften ebenfalls schwierig zu ersetzen sein. Wie auch immer die Logistik dahinter aussehen mag, die Tat an sich ist bereits ein solch ekelhaftes Verbrechen, dass diese Aktion drastische Konsequenzen der Polizei als auch aggressive Vergeltungsaktionen der Bewohner mit sich bringen wird.
Bisher ohne Konsequenzen bleibt die Geschichte um Christine und Tommy (nicht der leibliche Sohn Kevins, wie wir erfahren), die nach wie vor keine Richtung oder Schwung hat. Natürlich ist dies eine Folge der Abwesenheit von Wayne, der sich weiterhin auf der Flucht vor den Behörden befindet. Tommy muss Christine beschützen – damit hat sich die Sache aber auch. Dafür gibt uns die Geschichte einen kleinen, aber höchst interessanten Einblick in die größere Welt von The Leftovers. Es wird nicht näher erklärt, in welchem Ort sich die beiden zu Beginn befinden, aber wir sehen zwei verschiedene Ausprägungen ambulanter Psychiatrien. Dabei handelt es sich um schlichte Aufenthaltsräume für Leute, die den Departure nicht verarbeiten können und den Verstand verloren – oder einfach nur untertauchen wollen. Durch eine weitere neue Glaubensgruppe erhält Tommy auch die Idee, sich wie einer von ihnen zu verkleiden und so die schwangere Christine aus dem Krankenhaus zu befreien, nachdem er fälschlicherweise beschuldigt wurde, an ihrem Hämatom am Bauch schuldig zu sein. Viel zu oft werden im Alltag die Unbequemlichkeiten einfach ausgeblendet und unsichtbar für den „normalen“, funktionierenden Teil der Gesellschaft gemacht. Es macht daher Sinn, dass dafür spezielle Einrichtungen gebildet haben, um diese Leute aufzufangen. Ein weiterer Beweggrund der Guilty Remnant?
Weniger Sinn jedoch macht die gesamte Geschichte um Waynes Baby, das Christine in ihrem Bauch trägt. Zu Beginn greift sie ein geistesgestörter Mann an (Zwischenstand: 2 Penisse, 0 Brüste) und schreit: „I know what’s inside you.“. In Verbindung des Titels, B.J. and the A.C., könnte man daher wohl argumentieren, dass in Christines Bauch das Gegenstück zu Baby Jesus, nämlich der Antichrist, heranwächst. Auch wenn es dafür keine Indizien gibt, birgt diese Nebenhandlung bisher das größte Potential zur Lösung des gesamten Mysteriums. Eine weitere Bestätigung, dass an alledem etwas Wahres dran sein muss, gibt uns eine Busfahrt (Busnummer 9111). Während ein Soldat Christine über den Jemen aufklärt (gibt es dort einen Krieg?), fällt vor ihnen ein Lastwagen mit einer Ladung Loved Ones (TV-Werbung in Episode 3) um. Es handelt sich um detailgetreue Nachbildungen der Verschwundenen, die dann durch die Hinterbliebenen beerdigt werden können. Christine ist beim traurigen Anblick jedoch total aufgeregt, denn „it’s just like the dream“ des nackten Manns zu Beginn der Folge.
Man merkt schon an den vielen Klammern in dieser Review, dass uns in The Leftovers ein reichhaltiges und vielfältiges Universum geboten wird, das einer internen Logik folgt und viele Details durchdacht hat. Leider ergeben diese Fetzen bisher kein ebenso spannendes Gesamtbild. Natürlich ist dies nach vier Folgen noch keine Katastrophe, aber die scheinbar wahllose Streuung verwirrt – was wiederum die Intention dahinter ist. Großartige und kohärente Unterhaltung wie in der vergangenen Folge um Priester Matt Jamison ist dies nicht, aber ein Totalausfall liegt auch nicht vor. Stattdessen ist es eine typische Folge, wie man sie von Damon Lindelof erwarten würde, mit all ihren Vor- und Nachteilen.
Trotzdem gibt uns “B.J. and The A.C.” einen Einblick in die Vorgänge der Stadt. Durch den simplen Kniff zu Beginn entwickelt sich eine Folge, die fast schon in der Tradition einer einfachen Handlung nach Aristoteles steht. Das mag nicht für jeden Zuschauer interessant anzuschauen sein, der sich eine Klärung oder Ausarbeitung der Mysterien wünscht, aber die Showrunner haben sowohl in Interviews als auch der Serie bisher klare Zeichen gegeben, dass dies nicht unbedingt die zentrale Intention der Show ist. Und – ehrlich gesagt – ist dies auch nicht weiter wert erörtert zu werden. 140 Millionen Menschen verschwanden plötzlich von einem Moment auf den nächsten. Natürlich gibt es dafür wohl einen Grund. Doch welche Form dieser auch immer annehmen wird, die Auflösung dürfte sich relativ simpel gestalten. Entweder war es tatsächlich Gott höchstpersönlich oder es handelt sich um ein wissenschaftliches Phänomen. Wie auch immer, die Geschichte würde hier enden. Dann ist das temporäre Leid doch dramatischer und immens spannender.
Ich habe mich schon länger dazu entschieden, The Leftovers auf einer Metaebene als gemeinsame Therapiesitzung zwischen Lindelof und seinen Kritikern zu sehen. Ob Letzteren das überhaupt bewusst ist, mag man anzweifeln. Wie Jill Garvey kommen sie auch nun wieder aus ihren Löchern und werfen der Serie – nach vier Folgen – vor, dass das Mysterium nicht aufgelöst wird. Wie Jill Garvey beschäftigten sie sich lieber mit etwas anderem und wollen erst gerufen werden, wenn die Dinge „einfach“ sind. Lindelof und der geneigte Zuschauer müssen wohl wie Kevin dort im Türrahmen verzweifelt stehen. Gutes und gehaltvolles Drama gestaltet sich durch eine komplexere Natur. Natürlich wird es nie einfach.
Zitat der Folge:
“Get your balls off the son of God!”
Meta-Zitate der Folge:
“What the fuck does that mean?” “Am I supposed to give a shit?”