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In der letzten Folge der ersten Staffel wagt Damon Lindelof keine Risiken mehr. Viel mehr beruft sich The Leftovers auf die bisherigen Kernthemen und liefert eine emotionale Tour-de-Force ab, die vor allem visuell und durch preisverdächtige Darbietungen überzeugen kann.
Finale Folgen sind schwer zu gestalten und als Zuschauer aufzunehmen, egal ob es sich um das Ende einer Staffel oder einer Serie generell handelt. Nun hat HBO The Leftovers bereits vor einigen Wochen für eine zweite Staffel verlängert, doch so richtig wäre das nicht nötig gewesen. Die dominierenden Themen dieser Finalfolge sind nämlich von Abschluss und Vollendung definiert. Damon Lindelof und Buchautor Tom Perrotta, der hier erneut als Co-Autor mitwirkte, begehen nicht wie andere Autoren den Fehler und lassen die Handlung diesen Abschluss bestimmen, stattdessen konzentrieren sie sich auf die emotionale Ebene ihrer Figuren. Dabei bleiben einige Handlungsstränge auf der Strecke zurück, doch die zentralen Figuren und ihre Depression sowie ihr Frust mit dieser Welt werden zu einer befriedigenden Übereinkunft geführt. Dies schaffen die Autoren, mit einigen wenigen Ausnahmen, in gerade einmal drei größeren Sequenzen.
Die Folge beginnt zunächst mit Kevin, der sich neben der toten Patti in der Waldhütte eine Zigarette anzündet. Eine Zigarette ist auch Streitpunkt zwischen Jill (Margaret Qualley) und ihrer Mutter im Hauptquartier des Guilty Remnant, dessen Mitglieder in Abwesenheit ihrer Anführerin entschlossener denn je sind. Es ist ein stimmiger Auftakt für diese mitreißende Folge und der Soundtrack erhöht erneut das Gewicht dieser emotionalen Momente. Musikalisch ist diese Anfangsphase nämlich mit Nina Simones packendem und passendem Song Ne Me Quitte Pas unterlegt, welcher sich als Track in Christines iPod entpuppt. Wir finden hier alle Figuren an ihrem absolut dunkelsten und traurigsten Punkt wieder. Christine, konfrontiert mit Waynes Lügen, entschließt sich allem zu entziehen und lässt Tom alleine mit dem Baby zurück.
Kevin (Justin Theroux) kann sich seiner Situation nicht direkt entziehen. Er ist kein guter Mann, hat schlimme Dinge getan und Hilfe braucht er auch, denn alleine befreit er sich nicht aus seiner misslichen Lage. Glauben würde ihm ohnehin niemand. Hundemörder Dean (Michael Gaston) bleibt für diese Folge mysteriöserweise komplett verschwunden. Zur Hilfe eilt ihm Pfarrer Jamison (Christopher Eccleston), der mit Kevin Patti (Ann Dowd) unter die Erde bringt und seinen Chief das 23. Kapitel aus dem Buch Hiobs verlesen lässt. Und hier kommt auch der Episodentitel ins Spiel. Die gesamte Staffel über war es Tommy, der die Rolle des Verlorenen Sohnes einnahm, doch im Finale wird Kevin zu dieser Figur. Er ist gebrochen, am Boden, außerhalb seiner Stadt und findet über Matt und nicht subtile (Kein Problem, denn es passt zum alles andere als subtilen Charakter), dafür aber schön eingefangene Taufsymbolik des Christentums seinen Weg zurück. Kevin ist wieder ein gemachter Mann. Ein Mann, der mit seinem Wissen um seine schlechten Taten zu kämpfen hat, sich aber dennoch für das Gute entscheiden will. Doch gute Intentionen sind oftmals nicht genug, wie ihm sein Unterbewusstsein in einer Projektion seines Vaters vermittelt.
Aus der restlichen Traumsequenz will ich nicht ganz schlau werden. Sie hat einige Lost -Parallelen in ihrer Konzeption und endet mit einem der sonderbarsten und unbequemsten WTF-Momente des Fernsehjahres. Trotzdem ist sie inhaltlich und thematisch komplett durcheinander. Es gibt zwar nette Callbacks wie die Ausgabe des National Geographic, die ich willkommen heiße, doch diese Sequenz dient keinem direkt erkennbaren Ziel. Für diese erste Staffel ist dies geradezu typisch und bisher haben Lindelof und seine Autoren Zweifel des Zuschauers rückwirkend stets aufgeklärt, doch die bisherigen textuellen Aussagen zur metaphysischen Seite der Serie lassen eher darauf schließen, dass es sich nur um Kevins fortwährende Schizophrenie handelt – und um nichts mehr. Dies wird in der Zukunft wohl für vor allem visuelle Höhepunkte sorgen dürfen, doch die metatextuelle Debatte von Mysterien scheint vorerst von der Realität gewonnen zu sein. Die Finger wird Lindelof davon wohl trotzdem nicht lassen können, natürlich zum Vergnügen des geneigten Zuschauers.
Zu Kevins Glück handelt es sich bei alledem jedoch nur um einen Alptraum und schon bald sitzt er mit Matt bei Cheeseburgern am Tisch eines Diners und gibt zum ersten Mal wirklichen Einblick in seine Ansichten zum Sudden Departure. Vor dem Ereignis war er unzufrieden, er wollte seine Familie verlassen und fühlt sich nun schuldig und bestraft. Er hat nur einen Wunsch: Irgendwie muss sich seine Familie doch wieder zusammenfügen lassen. Diesem Wunsch wird stattgegeben. Auf der Toilette des Diners treffen wir auf Holy Wayne, angeschossen (zuvor hörte man im Autoradio etwas über eine Schießerei) und von ATFEC-Beamten verfolgt. Wayne stirbt, kann Kevin jedoch zuvor noch augenscheinlich seinen Wunsch erfüllen und auch die Musik ertönt fröhlich aus dem Radio auf der Heimfahrt.
Nothing Else Matters
Diese endet aber abrupt auf den Straßen Mapletons, wo das Chaos ausgebrochen ist. Wir erinnern uns: Die Mitglieder des Guilty Remnant brachen zu Beginn der Staffel in die Häuser der Einwohner ein und stahlen Familienphotos der Verschwundenen. Als wäre diese Tat nicht genug, wurden diese Photos dazu benutzt, um Loved Ones-Puppen (Die Lieferung aus Folge 8) der Verschwundenen anzufertigen, was diesen Subplot endlich zur Vollendung führt. Diese Nachbildungen werden dann in aller Früh von den Mitgliedern des Kults an den Ort ihres Verschwindens gebracht. Regisseurin Mimi Leder schafft es, das Surreale im Alltäglichen dieser Momente perfekt einzufangen, aber auch den Horror für die Hinterbliebenen einnehmend abzubilden. Carrie Coon in der Rolle der Nora Durst ist die Entdeckung dieser Staffel und ihr verstummter Schrei dürfte in Hollywood und der restlichen Fernsehlandschaft gehört werden. Hoffentlich bleibt sie der zweiten Staffel jedoch treu.
Es gab, wie in der letzten Review dargelegt, einige Verwunderung über die Platzierung der Flashback-Folge in der ersten Staffel. Bereits dort wurde auf den rückwirkenden Effekt und die Verbindung im Gesamtgefüge hingewiesen, doch auch ich vergaß völlig, dass sie womöglich noch wichtiger für das Finale sein könnte. Wenn uns die letzte Folge daran erinnern wollte, dass es trotz all den Problemen schon genügt zu existieren, dann zeigt uns The Prodigal Son Returns darauf aufbauend, dass sich geteiltes Leid besser ertragen lässt. Das ist keine revolutionierende oder subtile Botschaft, aber eine oft vergessene Wahrheit. Freunde und Familie, das sind Urwerte nicht nur der amerikanischen Gesellschaft. Aber auch die Hilfe von Fremden kann nützlich sein, wie der Christ zu Beginn der Folge Tommy erinnert. Selbst die offenherzige und aufrichtige Umarmung eines Fremden kann trotz unterschiedlicher Glaubensrichtungen kurzzeitig das Leid physisch manifestieren und das Gewicht dadurch lindern.
Daher wirken die chaotischen Zustände in Mapleton auch nicht dauerhaft verwirrend, obgleich einer gewissen Faszination und Schönheit der Zerstörungswut. Dafür ergibt sich ein kathartischer Moment für die Stadt, deren kollektiver Frust sich in offener Wut und Aggression entlädt; Katharsis gibt es aber auch für die Mitglieder der Guitly Remnant, die willentlich und gerne mit ihrem Leben dafür bezahlen, um – wie Meg (Liv Tyler) uns mit einem Blick auf Stolz und Erfüllung wissen lässt – den Memorial Day zu einem wahrhaften Tag des Erinnerns werden zu lassen. Währenddessen zählt für Kevin nichts mehr als die körperliche Unversehrtheit seiner Familie, alles andere ist unwichtig. Er hat seinen Platz bereits innerlich akzeptiert und will in bester Jack Shephard-Manier Sachen reparieren und Leute retten. Er muss Hunde aufhalten, die den Hirsch bedrohen; es ergibt sich eine schöne Verbindung zum Staffelauftakt. Er kann Laurie (Amy Brenneman) aus den Händen eines rachsüchtigen Einwohners befreien, die nach Jahren ihr Schweigen bricht: „JILL!“ Es ist zwar nur ein Krächzen, aber eines, das bis ins Mark erschüttert. Schlussendlich überwiegt keine politische oder religiöse Überzeugung die Liebe einer Mutter für ihr Kind.
Die gesamte Szene ist wundervoll in Szene gesetzt. Mimi Leder beginnt die Episode sehr intim, ihre Kamera ist den Figuren stets ganz nahe zugewandt, sie fängt die schmerzvollen Gesichter in Close Ups ein. Daher wirken die totalen Einstellungen im Kontrast so effektiv. Die brennenden Häuser und das Chaos ergeben ein Lichterspiel, das an biblische Kämpfe erinnert, die Zeitlupen und verstummten Schreie erledigen ihr Übriges, während Max Richters ausgezeichneter Score weiterhin die treibende und beständige Kraft in diesen Szenen bleibt.
What Is Left?
Bei allem Lob bleiben jedoch auch einige Aspekte auf der Strecke. Der gesamte Handlungsstrang um Holy Wayne ist nur halb gar. Trotz stellenweise großartiger Darbietungen von Paterson Joseph und Chris Zylka kann diese Geschichte nur punktuell fesseln und hinterlässt viele Fragezeichen. Auch Hundemörder Dean bleibt im Ungewissen. Er scheint keine Halluzination Kevins zu sein und auch er bleibt im Kontakt mit den Leuten auf der anderen Seite der „Brücke“, ähnlich wie Kevins Vater, aber dafür wird die zweite Staffel sicherlich Zeit finden.Von Amy oder den Zwillingen fehlt in dieser Folge jede Spur. Insgesamt halten also Lindelof und Perrotta ihr Versprechen: Kein Mysterium wurde zum Ende aufgeklärt, auch wenn die metaphysischen Ereignisse mit der Ausnahme des Verschwindens selbst auf Kevins Schizophrenie zurückzuführen sind.
Trotz allem ist dies kein Problem. Die Palette an Nebenfiguren ist durch die Bank weg gut gezeichnet. Nur weil ihre Geschichten nicht zu Ende gedacht werden, verliert ihre Existenz nicht an Bedeutung. The Leftovers bietet zwar ein zentrales Mysterium, ist aber nicht an dessen Aufklärung interessiert. Viel mehr versuchen Perrotta und Lindelof ein Gesellschaftsbild mit allen Facetten zu zeichnen und dies gelingt ihnen in dieser außerordentlichen ersten Staffel fabelhaft. Aber nicht nur die Konstellation oder die reichhaltigen gestalterischen oder narrativen Details machen die Serie so einzigartig.
In der zweiten Hälfte der Staffel wurde umso deutlicher, dass Lindelof, ein Kind im Spannungsfeld zwischen Glaube und Wissenschaft, sehr deutlich an unser aller Existenz interessiert ist. Spirituelle Sternenstaubanalogien bei Seite, wer fühlt sich nicht hilflos und klein, wenn er in einer lauen und wolkenfreien Nacht in den Himmel schaut. Auch True Detective sah im Schwarzen ein gewisses Böses, dem sich nur einige helle Punkte entgegenstellen wollen. Die Angst vor der Dunkelheit, dem Ungewissen, treibt den Menschen in seiner Suche nach Bedeutung seit Jahrtausenden in das Religiöse, in das Spirituelle. In The Leftovers konfrontiert Damon Lindelof seine Zuschauer mit ihrer universalen Bedeutungslosigkeit. Es gibt Lichtpunkte, ja, aber auch wenn wir ihr Licht erblicken, können sie bereits seit Jahren erloschen sein. Wir sind umgeben von den Ruinen toter Zivilisationen.
Schlussendlich bleibt mit The Leftovers eine qualitativ hochwertige Serie zurück, die die Geister spaltete. Wahrscheinlich muss man ein wenig empfänglich für diese Signale oder ein bisschen innerlich angekratzt oder gebrochen sein. Viele können sich mit den Figuren nicht identifizieren, sie erscheinen zu verzweifelt, gebrochen, abgeschieden und klagend. TV-Kritiker Todd Van Der Werff zog nach der letzten Folge das Fazit, dass The Leftovers die bisher beste und einzigartigste Serie ist, die sich mit Depression beschäftigt. Ich würde das so unterschreiben, jedoch weitergehen und alle Gefühle miteinbeziehen, die damit verbunden sind. Schließlich geht es nicht nur um ein vielleicht von manchen so wahrgenommenes pathetisches „Jammern“, sondern auch den unerklärlichen Verlust von zwei Prozent der Weltbevölkerung an sich und die Wut, dass man ihn nicht vergessen kann, oder die Wut, wenn man sich an ihn erinnert. Diese schlägt um in brutalste Gewalt, die Serie fand hier verstörende Bilder. The Leftovers verlangt dem Zuschauer viel ab, er muss sich voll darauf einlassen und in diese Welt und den Kopf des Showrunners abtauchen. Konfrontiert wird der Zuschauer mit dem, was er gerne selbst verdrängt. Belohnt wird er jedoch mit einer der besten Serien über die menschliche Existenz überhaupt. Dabei sind Lindelof und Perrotta aber nicht durchweg nihilistisch. In der Gemeinschaft findet sich Kraft das Dunkel auszustehen. Das mag so heruntergebrochen plump erscheinen, aber es ist wahr.
Zitat der Folge: “Oh, fuck you, you fucking tobacco-stained twat.”
Meta-Zitate der Folge: “Oh no, what happened next?”