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Review: The Leftovers S01E06

05 Aug, 2014 · Sascha · Fernsehen,Review

TheLeftovers 106 HBO
© HBO

Wie in Noras Fragebogen ergibt sich auch nun bei den Episoden ein Muster: Sobald sich The Leftovers auf das Schicksal einer einzelnen Figur konzentriert, ist das Endergebnis eine faszinierende, mitreißende und außerordentlich produzierte Glanzleistung, die das Potential dieser Ausnahmeserie verdeutlicht.

Wir Menschen sind gut darin, die Realität zu leugnen. Wir entwickeln ausgefeilte Systeme, Parallelwelten und Mechanismen, die unsere Tagesabläufe bestimmen. Wir geben uns ihnen freiwillig hin, um der schmerzenden Wahrheit zu entkommen. Die Wahrheit in The Leftovers ist, dass vor etwas mehr als drei Jahren zwei Prozent der Menschen ohne Erklärung verschwand. Das Ereignis ist nicht zu erklären. Wie gehen wir damit auf der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene um? Und rechtlich gesehen, erinnert uns ein betrunkener Partylöwe inmitten der Folge, werden die verschwundenen Personen gar nicht als tot anerkannt. Sie sind einfach weg. Wie soll man damit umgehen? Alte Systeme fallen in sich zusammen, neue entstehen.

Nora Durst war bislang nur eine Randfigur in der Figurenkonstellation Mapletons. Dabei vereint sie die thematische Spannung aus Trauer und Schuld sowie das Spannungsverhältnis aus Individuum und Staat wie kein anderer Charakter der Serie. Ihre gesamte Familie, bestehend aus Ehemann und zwei Kindern, verschwand am 14. Oktober. Auf der einen Seite plagt sie eine tiefe Trauer. Sie will und kann all dies überhaupt nicht wahrhaben. Daher geht sie immer noch für die gesamte Familie einkaufen. Ungeöffnete Müslipackungen der Kinder werden mit neuen ersetzt. Die Kinderzimmer bleiben unberührt zurück, ein wahrhaftes Puzzle, das nur von den Verschwundenen wieder gelöst werden kann und bis zu ihrer Rückkehr verharren muss. Auf der anderen Seite aber treibt sie ein tiefe Schuld, dass gerade sie zurückgelassen wurde. Die Chance ist gering – 1 zu 128.000, wie sie später kühl bemerkt. Was hat sie falsch gemacht? Wieso ist sie noch hier? In der Figur der Nora Durst vereint sich die zentrale Thematik der Serie, weshalb es an der Zeit war, ihr mehr Raum zu schaffen.

Zu Beginn der Episode geht sie ihrem Alltag nach, zu dem ein Interview mit dem Ehemann eines Verschwundenen, aber auch das Stalking der Lehrerin gehört – der Lehrerin ihrer Kinder und der Affäre ihres Mannes. Könnten die Kinder sogar in ihrer Anwesenheit verschwunden sein? Ein ständiger Begleiter, eine Magnum in der Handtasche, deutet jedenfalls tiefergehende Rachefantasien an. Die Waffe dient aber auch einem weiteren Zweck. Gegen Abend bestellt sich Nora eine Prostituierte namens Angel (ha!), die sie mit der Waffe, unterlegt zu Slayers „Angel of Death“, anschießt. Nora verliert kurz das Bewusstsein, trägt jedoch eine schusssichere Weste und überdenkt die Tat. “Was ist Ihnen nur passiert?“, fragt gerade ausgerechnet die Prostituierte. Es geht ihr weniger um die womögliche Nahtoderfahrung. Die Kugel symboliert den Schlag, den ihr Leben erfahren hat. Sobald sie merkt, dass sie sich loslösen könnte, braucht sie ihre Dosis.

Danach führt uns Noras Beruf beim Department of Sudden Departures nach Manhattan (eine weitere 9/11-Referenz). Dort findet ein nationales Treffen der Regierungsbeamten und der Vertreter aus Religion und Wirtschaft zum 14. Oktober statt. Bereits die Ankunft gestaltet sich kurios und gespenstig. Vor dem Eingang belästigen Demonstranten alter und neuer Religionen vereint die Fachbesucher. Während ein Christ in der kunterbunten Menge das Verschwinden des Papstes als Verschwörungstheorie deklariert und direkt aus einem Monty Python-Sketch entsprungen sein könnte, wird die Situation schlagartig gefährlich, als ein Mann ihr eine Mk2-Handgranate in die Hand drückt und den Ring zieht. Nora ahnt im Gegensatz zum Zuschauer direkt, dass es sich hier um eine Attrappe handelt. Auf der Granate steht: „Any time now.“ – eine Erinnerung an die Worte von Chief Garvey aus dem Piloten, dass die gesamte Situation kurz davor ist zu explodieren.

Damit dies nicht passiert, hat sich ein durchdachtes und komplexes System aus der Regierung und der Wirtschaft gebildet. Nora trifft auf einer hemmungslosen Drogenparty („The FDA is gonna approve it next year“ – Gesellschaftskritik und ein Zeichen für die hoffnungslose Serienwelt in einem) nicht nur auf den Verkäufer von Loved Ones, der Firma hinter den lebensgetreuen Puppen, sondern wird auch mit der lächerlichen Farce ihres Berufs konfrontiert. Der Fragebogen kann und soll keine Ergebnisse liefern – er bringt Ruhe und eine Möglichkeit, mit dem 14. Oktober abzuschließen. Die Hinterbliebenen können sich von dem erhaltenen Geld über die nicht wirkenden Lebensversicherungen hinwegtrösten oder bei Loved Ones eine Beerdigung erkaufen. Das System funktioniert, alle gewinnen. Man kann weiterhin die Realität leugnen und versuchen, ein normales Leben zu führen, wie auch immer sich das gestalten mag. Doch will man das wirklich? Der Schmerz bleibt bestehen, die Figuren leiden weiter, es ist ein Teufelskreis aus Trauerphasen, dem niemand gänzlich entkommen kann.

Ähnlich wie Kevin Garvey gehen auch Nora Dursts Gegenstände verloren. Bereits nach sechs Folgen wirkt dieser Kniff der Autoren etwas abgedroschen. Die Tiefe fehlt, die Metapher ist zu lasch. Doch bei Nora handelt es sich nicht nur um eine kleine Randnotiz wie bei den verschwundenen Hemden aus der letzten Episode. Ihr verschwundener Ausweis dient als Basis für eine kleine Wendung später in der Folge mit einer Aktivistin, die sich auf das Treffen und die Podiumsdiskussion gemogelt hat. In einem starken Moment, der an einen entscheidenden Plot Point aus Contact erinnert, scheint Regisseur Carl Franklin die Zeit still stehen zu lassen. Die Aktivistin entpuppt sich jedoch als relativ harmlose Verschwörungsfanatikerin, die zwar die Theorie der unnützen Fragebögen und Verbrennungsanlagen (gesehen in Gladys) bestätigt, im nächsten Satz jedoch über Plasmawaffen des Mossads aus dem Jahre 2005 predigt und damit ihrer These jegliche Legitimität raubt.

Hug The Pain Away

Nora landet fertig mit der Welt an der Bar. Dort trifft sie auf Buchautor Patrick, der den Titel „What’s Next.“ geschrieben hat. Kein Fragezeichen. Er erzählt Nora von seiner Tochter, einer neuen Hoffnung und der Zukunft. Wenn The Leftovers bisher in seinen trostlosen Ausführungen über eine Gesellschaft, gefangen in Schockstarre, in einem Erfolg hatte, dann an dem Scheitern einzelner Figuren aufzuzeigen, dass niemand wirklich an etwas mehr glaubt, sich auf etwas freut oder hofft. Deshalb spricht Nora uns aus dem Herzen und explodiert: „Bullshit!“ Der Autor, ein “vierfacher Überlebender” (Legacy) muss lügen, er kann gar nicht so viele Personen verloren haben, wie er behauptet – sonst würde er sich doch wie sie fühlen. Nora findet in ihrer Trauer und Situation noch Stolz. Er ist ihr letzter Zufluchtsort. In einer der wenigen humorvollen Szenen der Serie bisher, die von dunklen Abgründen der menschlichen Natur geprägt ist, trinkt sie trotzig ihren Martini aus. Doch natürlich will Nora sich nicht so fühlen. Niemand will sich so fühlen. Weshalb sie auch auf das Angebot eines religiösen Fachbesuchers anspringt.

Die Folge gipfelt dann in einem Treffen mit Holy Wayne, der lebt (Wie lange, ist jedoch unsicher – er glaubt bald zu sterben) und sich in New York aufhält. Der Gang zu ihm gestaltet sich als letzter Ausweg für Nora. Franklin lässt seine Figur einen langen, dunklen Gang entlangschreiten, der mit seinem warmen Licht am Ende durchaus den oft beschriebenen Nahtoderfahrungen ähnelt. Am Ende scheint sogar eine verschwommene Figur zu warten. Doch entgegen der Vorstellung, dass einen Verwandte ins Nachleben aufnehmen, will Waynes Handlanger 1000 Dollar über PayPal für die Dienste des Heilers. Nora ist eine Skeptikerin, wie sie im Buche steht, doch auch sie ist an einen Punkt angelangt, wo sie einfach nicht mehr weiter kann. Auch wenn Wayne (Paterson Joseph) geradezu schmerzlich der Trope des “Magical Negro” entspricht, kann die Figur vor allem durch die empathische und eifrige Darbietung der emotionalen Intelligenz Waynes gerettet werden. Im Gegensatz zu vorherigen Folgen sucht man hier vergebens nach übernatürlichen Phänomenen oder Träumen. Stattdessen ist „Guest“ eine Folge, die uns mit der brutalen Härte und bisher nur erahnten Hoffnungslosigkeit mancher Figuren konfrontiert. In einer Szene, in der Schauspiel, Musik und Regie zu einer magischen und ergreifenden Sinfonie zusammenfinden, fühlt sich Nora endlich verstanden, kann wieder Hoffnung schöpfen und ihr altes Leben hinter sich lassen – die Karthasis als ultimatives Ziel? Durch das Loslassen der Vergangenheit projiziert sie auch ihr Unterbewusstsein nicht mehr länger auf ihre Interviewpartner. Frage 121, ob die Verschwundenen an einem bessern Ort seien, wird nach etlichen Fragebögen endlich verneint.

In „Guest“ liefert Carrie Coon ein prachtvolles Gegenstück zu ihrem Serienbruder Christopher Eccleston, dessen Matt die beiden Boote und sogar den Helikopter in der Hoffnung, doch noch von Gott persönlich gerettet zu werden, verweigerte. Nora weiß dagegen, dass sie nicht mehr so weitermachen kann. Sie nimmt jede Hilfe an. Sie versucht mit Kevin nach Miami zu fliegen, sie nimmt die Droge auf der Party an und der ultimative Perspektivenwechsel kommt mit Wayne. Carrie Coon trägt diese Folge mit Bravour. Die ehemalige Theaterschauspielerin konnte bereits in kurzen Auftritten in vorangegangen Folgen dem Paradebeispiel ihrer Rolle eine reale Note verpassen. Doch in ihrer Einzelfolge wird Nora mit all ihren wilden Seiten, ihrem Schmerz, ihrer Trauer und eigentümlichen Ritualen lebendig.

Ein besonderer Kritikpunkt, den man der Serie momentan durchaus vorhalten könnte, ist das Fehlen eines überhängenden, dominierenden Plots, der alles vereint. Doch das ist natürlich nicht nur auf einer thematischen Ebene durch die Symbolkraft dieses narrativen Kniffs zu erklären, sondern vor allem für den Zuschauer interessant, der oftmals von so komplizierten und übernatürlichen Vorfällen in ähnlichen Serien wie FlashForward oder The Event zu sehr eingenommen wurde. Als Folge wirkten die Figuren austauschbar und der sich immer windende und mit Twists vollgepackte Plot fungierte als einziger Reiz. Stattdessen ist The Leftovers die Antithese zu dieser Erzählweise. Hier wird kein überkomplizierter und allzu gefälliger Plot vorgegaukelt, sondern den Figuren Platz gegeben, um zu atmen und zu existieren. Es beschleicht einen das Gefühl, dass diese Welt lange vor dem 14. Oktober existiert hat, als ob diese Figuren tatsächlich existieren und real sein könnten. The Leftovers bietet jedoch nicht nur lebensechte Figuren und nachvollziehbare Emotionen, sondern eine glaubhafte und durchdachte Welt, die in Sachen Qualität und Detailreichtum ihresgleichen sucht. In einer Serie, die die globale Gesellschaft kollektiv den Existenzialismus hinterfragen lässt, ist dies unabdingbar.

Zitat der Folge: “They can lie all they want, North Korea lost people.”
Meta-Zitate der Folge: “Oh, fuck your daughter!”