Vereinigte Staaten, 2012
Regie: Josh Trank
Drehbuch: Max Landis
Darsteller: Dane DeHaan, Michael B. Jordan, Alex Russell, Michael Kelly
Länge: 83 Minuten
FSK: 12
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Auf dem Papier ist ‘Chronicle’ Standardware aus Hollywood, wie wir sie aus den Nullerjahren gewohnt sind. Teenager, Superkräfte, Love Interest. Alles da, alles dutzende Male gesehen. Doch dank Max Landis’ gutem Drehbuch und Tranks leidenschaftlicher Umsetzung des Found-Footage-Ansatzes gelingt dem Film das, was vielen Superheldenfilmen fehlt: echter Tiefgang.
Andrew hat es nicht leicht: In der Schule gilt er als Loser, sein einziger Freund Matt gibt sich nur mit ihm ab, weil er mit ihm verwandt ist. Dazu ist seine Mutter ist todkrank und sein Vater, überfordert mit der Krankheit seiner Frau und seinem entfremdeten Sohn, wendet sich dem Alkohol zu. Andrew beginnt sich zu wehren und kauft sich eine Kamera um die Misshandlungen seines Vaters an ihm aufzuzeichnen. Als er, Matt und Schulsprecher Steve eine Höhle nahe einer Party im Wald finden, verändert sich das Leben der drei radikal. Die Tagline ‘Boys will be boys’ könnte nicht treffender sein, denn Andrew, Matt und Steve benutzen ihre neugewonnen Superkräfte nicht für die Verbrechensbekämpfung, sondern zum Spaß im Supermarkt.
Insbesondere Andrew ist anders als andere Superhelden. Er will weder den Tod seiner Eltern rächen, noch das Mädchen von nebenan gewinnen. Er will eigentlich nur ein normales Leben. Und das erhält er durch seine Fähigkeiten. Doch auch wenn sein Leben sich durch neue Schulfreunde und Klamauk im Supermarkt kurzzeitig verbessert, bleibt sein soziales Umfeld konstant. Sein Vater schlägt ihn weiterhin, in der Schule wird er weiterhin gemobbt – auch wenn er sich jetzt brutal und schockierend wehren kann – und bei den Mädels blamiert er sich, wofür ihn sogar seine engsten Freund schikanieren, was ihn noch weiter an den sozialen Rand treibt.
Während sich ‘We Need To Talk About Kevin’ eindrucksvoll mit der Frage beschäftigt, wieso ein Kind zum Amokläufer wird – ohne eine Antwort zu geben – zeigt uns Landis nachvollziehbare Faktoren, die auf Andrew einwirken und das Fass zum Überlaufen bringen. Es fehlt oft nur die Kraft dazu. Oder die Waffe. Mit großer Kraft kommt große Verantwortung, weiß Peter Parker dank Onkel Ben. Andrew hatte nie eine Leitfigur oder Vaterfigur, zu der er aufblicken kann. Er ist emotional instabil, launisch und, erschreckenderweise, empathisch. Man versteht, wieso Andrew nicht mehr kann und wieso er rebelliert. Dank seiner Kräfte ist er losgelöst. Als Mobbingopfer will man einfach mal laut schreien und auf den Tisch hauen, sich alles nicht mehr bieten lassen – genau das tut Andrew.
Die finalen, viel kritisierten zehn Minuten sind fuer mich mit die interessantesten des Kinojahres. Als es zum Konflikt zwischen Matt und Andrew kommt, nimmt Regisseur Josh Trank sich Kameras von Zeitzeugen und Überwachungsanlagen an. Ein kluger Schachzug, denn Andrew ist zu beschäftigt, um eine Kamera zu halten. Früh im Film stellt Cousin Matt die Frage, weshalb Andrew alles aufzeichnet. Eine existenzielle Frage für jeden FF-Film; es muss einen Grund geben, weshalb man aufzeichnet. Andrew sagt, dass es ihm einfach wichtig ist, alles zu dokumentieren. Doch in Wahrheit bildet die Kamera sein Schutzschild. Sie bietet Distanz zur Außenwelt, zu der sich Andrew dennoch Kontakt wünscht.
Viel interessanter ist jedoch die Frage, wer sich dieses Material ansehen könnte und wieso es von Interesse sein könnte. ‘Cloverfield’ eröffnet mit kurzen, verschlüsselten Meldungen darüber, dass das folgende Material Eigentum des Departments of Defense ist. In ‘Chronicle’ wurde ebenso jedes verfügbare Material zusammengesetzt, um sich ein Bild über die Geschichte dieser Figuren zu machen.
Es ist daher im FF-Genre minder wichtig zu fragen, wieso jemand aufzeichnet, sondern wichtiger zu fragen, für wen das Footage interessant sein könnte. Sehr meta, aber nachvollziehbar: Wenn zwei Figuren eine Viertelstunde lang durch Seattle springen, dabei Hochhäuser zerstören und Busse durch die Luft wirbeln, wird das die Aufmerksamkeit der Welt und insbesondere des Militärs auf sich gezogen haben, weshalb wir auch einen Charakter gegen Ende des Films am Ende der Welt wiederfinden.
Laut ersten Meldungen soll sich Max Landis dieser Ansicht fuer das Sequel annehmen, das durchaus interessant sein dürfte und als erster Film wirklich die Frage behandeln dürfte, wie die Welt mit Superhelden Gone Wild umgehen würde.