'We Need To Talk About Kevin' Review - PewPewPew - PewPewPew

USA/UK, 2011
Regie: Lynne Ramsay
Drehbuch: Lynne Ramsay, Rory Stewart Kinnear
Darsteller: Tilda Swinton, Ezra Miller, John C. Reilly
Länge: 112 Minuten
FSK: 16
Rating: ★★★★★

Das erste Mal sehen wir Eva, wie sie in einem See voll Blut auf Händen getragen wird. Dreckig, nass, rot. Doch sie grinst, es gefällt ihr. Menschenmassen drängen sich eng aneinander vorbei. Es sind grausige und erschreckende Bilder, die kein Stück ihrer Energie verlieren, selbst wenn man weiß, dass sie beim Tomatima-Festival entstanden sind. Später Abends schlendert sie betrunken mit einem Mann durch die Straßen. Dann trägt sie einen Anzug. Eine Frau kommt ihr auf dem Nachhauseweg entgegen, gibt ihr eine Ohrfeige und rennt bitterlich weinend davon. Eine Mann will die Polizei rufen, doch Evan winkt ab und geht weiter. Sie trägt es mit Fassung. Einige Jahre später sitzt Eva (Tilda Swinton) mit ausdruckslosem Blick auf einem Krankenbett. Ihr Baby Kevin schreit aufhörlich in den Armen des Vaters (John C. Reilly).

Dass Eva sich nicht auf Kevin gefreut hat, wäre eine Untertreibung. Sie ist die Person, die in diesem Moment alles bereut, die Uhren zurückdrehen möchte und dennoch nicht abhaut, sondern die Sache durchzieht. Sie begegnet Kevin freundlich, spielt mit ihm geduldig und sorgt sich liebevoll um ihr Kind. Doch schon im Säuglingsalter stößt Kevin sie brutal ab, hört sich nicht auf zu schreien. Wenn der Vater nach Hause kommt, überarbeitet und ohne wirkliche Verbindung zur Familie, probiert er trotzdem mit überschwänglicher Freude alles gut zu machen. Kevins Einstellung dreht sich um 180 Grad. Er umarmt freudig seinen Vater. Ein dunkles Grinsen verrät: Nur um seine Mutter zu bestrafen.

‘We Need To Talk About Kevin’ ist ein non-linearer Film. Höchstens die Falten auf Evas Gesicht oder ihre Haarlänge verraten uns, wo und wann wir uns gerade befinden. Sich einen Reim draus zu machen ist am Anfang nahezu unmöglich und auch nicht ratvoll, denn Regisseurin Ramsay setzt den Zuschauer in Evas Kopf, in dem nichts mehr Sinn macht, alles zusammenhanglos sich abspielt. Wir sollen uns nicht zurechtfinden. Frühere Einstellungen, in den Eva zu einem Ort fährt, an dem sich Blaulicht an den Scheiben ihres Autos spiegelt, verraten, dass etwas Schreckliches stattgefunden haben muss. Und umso länger der Film voranschreitet merken wir, dass Kevin dafür verantwortlich sein muss.

Gefangen in Evas Kopf kommt der Zuschauer zu keinem Schlusstrich, nichts macht wirklich Sinn. Sie würde am liebsten zurück nach Paris oder nach Spanien. Sie richtet sich einen Raum mit Karten und Anekdoten ihrer früheren Reisen ein, Kevin starrt sie finster an. Bereits bevor der Junge sie verbal für ihre Gefühle bestrafen kann, bringt er sie mit Taten zu Tränen. Den ganzen Film über sehen wir wie etwas zu einem Event hinführt. Aber selbst wenn es passiert, wissen wir nicht wieso. Die Frage nach dem genauen Warum quält uns.

Kevin ist jung, gut aussehend, groß und dünn. Er scheint keine Probleme zu haben sich verbal zu verteidigen, ist intelligent und dabei noch sehr schlagfertig. Er ist kein Opfertyp. Seine Familie ist wohlhabend und für ihn und seine Kindheit in ein riesiges Vorstadthaus gezogen. Doch das gesamte Haus ist leer, selbst nach Jahren minimalst eingerichtet. Vielleicht ein Stil von Eva, aber besonders Kevins Zimmer fällt heraus: Kein Poster, kein Buch, kein Film, keine Comics und besonders keine Videospiele. Nichts scheint Kevin wirklich zu interessieren. Die Frage nach dem warum wird noch quälender. Vorgeschobene Gründe und Mythen der Medien werden entmystifiziert. Wir stehen wie Eva zum Schluss desillusioniert vor den Scherben ihres Lebens und wissen, was passiert ist. Aber nicht warum. Eine Qual.

John C. Reilly füllt seine Rolle alleine mit seinem ahnungslosen und liebenswürdigen Gesicht völlig aus und Ezra Miller braucht nur dunkel zu gucken, um dem Zuschauer einen Schauder über den Rücken zu schicken. Perfektes Casting. Doch der wahre Star des Films ist natürlich Tilda Swinton, der alle Emotionen durchlebt, als wären sie ihre eigenen. Ihre Performance ist eine Tour-de-Force, die alle Ehrungen verdient, die es gibt. Wieso der Film dennoch so gut wie leer ausging, ist mir unverständlich. Wahrscheinlich weil er zeigt, dass die Wahrheit komplex ist. Dass das Leben keine einfachen Antworten bietet. Wahrscheinlich, weil er zu real ist.