17 Apr, 2020 · Sascha · Design,Featured,Kunst,Wissenschaft
Es ist der 20. Juli 1969, der Höhepunkt des Wettlaufs ins All. Neil Armstrong und Buzz Aldrin betreten als erste Männer den Mond und sichern den Amerikanern den Sieg. Aber dort standen nicht nur zwei Amerikaner auf dem Mond. Es ist unter immensen Anstrengungen von mehreren hunderttausenden Mitarbeitern und dem Mitfiebern einer ganzen Nation gelungen, drei Menschen erfolgreich zum Mond und wieder zurück zu schicken.
Die Geschichte der Menschheit ist mit diesen extremen Leistungen eng verbunden. Menschen mit dem Drang zur Erkundung der Grenzen und des Menschenmöglichen erkunden die Erde, berichten von dem, was sie sehen. Jahrtausende verbrachten wir in Höhlen, sahen Zeichnungen an Wänden von Biestern, die die Steppen bevölkerten, ehe wir uns rauswagten. Angetrieben von Neugier, von einem fast schon genetischen Sinn für Erkundungen – Eroberung. “Weil er da ist”, antwortete Bergsteiger George Mallory auf die Frage, wieso er und Sherpa Tenzing Norgay den Mount Everest als erste Menschen besteigen wollten.
Schon immer drangen besondere Menschen nach vorne, suchten den Fortschritt, um den Rest mit sich in eine bessere Zukunft zu reißen. Eine Reise zum Mond? Noch 70 Jahre zuvor eine Geschichte für die ersten Gehversuche des Kinos, pure Science Fiction – bevor Science Fiction überhaupt als Genre existierte. Es erschien fast unmöglich. Und doch ist die gemeinsame Anstrengung schlussendlich erfolgreich. Sie bleibt unerreicht. Kennedys Moon-Speech ist bis heute auch so ikonisch, weil er ein Bild zeichnet, von einer Nation, die zu träumen wagte.
Die Nation zu befeuern war ein Schlüsselpunkt. Das betrifft nicht nur die finanzielle Förderung, sondern auch die Psyche des Menschen. Die Forschung weiß schon lange, dass goal visualization extrem wichtig und förderlich für den Zielerfolg ist. Im Falle des Space Races sprechen wir von buchstäblicher Visualisierung einer noch nie erprobten und hoch riskanten Reise ins Unbekannte.
Wie sollte das gelingen? Was heute durch Filme wie Interstellar oder computergenerierte Bilder hochrealistisch abgebildet werden kann, wurde damals durch Maler versucht darzustellen. Es gibt den selektierten Titel des space artists, darunter auch wenige Astronauten wie Alan Bean oder erst kürzlich verstorbene Alexi Leonov. Der Kosmonaut absolvierte nicht nur den ersten Spacewalk, sondern erstellte auch das erste Kunstwerk im Weltall. Heute versuchen NASA und SpaceX für ihre neuen zukünftigen Missionen zu werben, wie zum Beispiel mit Illustrationen von Joby Harris.
Vor über 60 Jahren befanden sich das Genre und besonders die Technik aber noch in den Kinderschuhen. Künstler wie Robert McCall wurden legendär für ihre Darstellungen von Reisen ins Weltall und utopischen Gesellschaften. Gleichzeitig war das nur eine Seite der Medaille und auch die auf Wikipedia geführte Liste liest sich sehr amerikanisch. Das Space Race war natürlich aber auch ein Kampf der Kulturen.
Abseits von westlichen Popkultureinflüssen und des Mainstreams, hinter dem Eisernen Vorhang preschten die Russen zuerst ins Weltall, befördert von fantastischen und sehr eigenen Zeichnungen. Dank eines neuen Bildbands des Phaidon-Verlags geraten sie nicht in Vergessenheit. In Soviet Space Graphics werden auf 240 Seiten knapp 270 Illustrationen präsentiert, die künstlerische Visionen des sowjetischen Raumfahrtprogramms zeigen.
Bereits früh in den Dreißigerjahren wurden vom Staat Jugendzeitschriften und Magazine organisiert und gefördert, die Fiktion mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vermischten. Sie hießen Technologie für die Jugend, Wissen Ist Macht oder Der Junge Techniker. Alexandra Sankova, Gründerin des Moskauer Museums für Design, trug Coverillustrationen und andere Kunstwerke zusammen, die nun gebündelt in dem Buch zu erfahren sind.
Die Abfolge der Werke ist clever in 5 Kategorien unterteilt und folgt einer chronologischen Logik. Bevor die Reise ins All stattfinden kann, muss die Bevölkerung aufgeklärt und befeuert werden. Sankova informiert hier über die Entstehung der Magazine und Förderung dieser Kultur. Im Kapitel “Space Pioneers” finden sich die zärtlichen Anfänge des sowjetischen Raumfahrttraums. Spitze Raketen ragen mächtig empor, fliegen diagonal durchs Bild und umkreisen Planeten. Erste Kosmonauten betreten unerforschte Planeten, erkunden mit eckigen Fahrzeugen die Umgebung. Überhaupt wird deutlich, wie selbstverständlich für uns heute der Anblick der Erde ist im Vergleich zur damaligen Zeit, wo die Bilder verspielter sind – weil eben auch mehr Spielraum herrschte.
Besonders bewegt mich hier der von Alexei Leonov im Weltall gemalte Sonnenaufgang, der nicht nur nüchtern als einer der ersten Menschen im Weltall überhaupt dies mit seiner Kamera, sondern auch seiner Seele festhalten durfte. Das Bild überströmt vor Wärme und Geborgenheit und gibt einem das Gefühl zu verstehen, wie sich dieser Ausblick anfühlen muss.
Das dritte Kapitel namens “Cosmic Pioneers” widmet sich den Menschen und ihren Portraits, die erste Reisen vollbrachten und ermöglichten. Hier finden sich typische Zeichnungen des Kommunismus. Nicht das Individuum steht im Vordergrund, wie zum Beispiel in den Zeichnungen von Astronauten Alan Beans (Apollo 12), sondern Arbeiter, die die Raumstation zusammenflicken, oder die Wissenschaftler in der Bodenstation, die die Orbitalbewegungen verfolgen. Die Reise ins Weltall ist eine gesellschaftliche Unternehmung. Und auch: Frauen! Wie die Serie For All Mankind kürzlich zeigte, hätten die Sowjetunion und Rosaviakosmos die Gleichberechtigung im All stärker vorangetrieben als die NASA es tat.
Darauf folgt für mich das spannendste Kapitel “Future Visions”, welche die Veränderungen auf der Erde reflektiert.
Die Mondlandung war eben nicht nur ein wissenschaftlicher und technologischer Erfolg, ein politischer Sieg im Kalten Krieg, sondern markierte auch politische Umbrüche mit echten Veränderungen. Die Gesellschaft blickte optimistisch in die Zukunft, reflektierte neue gesellschaftliche Modelle, progressive Politik fand Erfolge, neue Technologie erleichterte den Alltag. In “Future Visions” sehen wir die sowjetische Zukunft: Fliegende Autos, riesige Luftschiffe, Hyperloops und abstrakte Städte von Morgen. Gar nicht so unterschiedlich zu den Ideen des Westens.
Wer kein Acid zur Hand hat, darf einen Blick in das letzte Kapitel “Alternative Worlds” werfen, in dem ferne Welten, Aliens und transzendentale Reisen dargestellt werden.
Soviet Space Graphics erscheint als großartiges Coffee Table Book mit Hardcover, das gut in der Hand liegt. Das Cover besitzt eine hübsche Prägung, die den Blick aus der eigenen Kapsel ins All verschönert und rahmt. Die Seiten sind in einem beigen Farbton gehalten, die Farben der Scans traditionell matt im Newsprint-Style. Die Illustrationen erscheinen genau so, wie sie vor mehreren Jahrzehnten in den Zeitschriften aussahen. Die Scans sind hochqualitativ und sauber. Auf gekünstelte Modernisierungen wurden bewusst verzichtet. Dazu ist bei jedem Kunstwerk der Künstler und Veröffentlichungsort angegeben, bei einigen selektierten Werken erscheinen auch kurze Hintergrundinformationen.
Soviet Space Graphics ist ein Bildband, wie ich ihn mir schon lange wünsche. Die Kunst der Staaten im Warschauer Pakt ermöglicht häufig einen Blick in die idiosynkratischen und oft unterdrückten oder verkannten Züge der Länder und die Köpfe ihrer Einwohner. Die Grafiken der sowjetischen Künstler lassen sich oft so wie die häufig im Internet rumgereichten Star Wars Poster aus Ungarn sichten: Man erkennt Figuren und auch worum es geht, aber es sieht doch alles ein bisschen anders aus. Was bleibt, ist die erkennbare Leidenschaft und Visionen von Morgen, die uns einen. Soviet Space Graphics ist ein visuell packender Trip und ein träumerischer Rückblick in die Zukunft, deren Visionen uns heute noch inspirieren und neue Ziele aufzeigen.
Phaidon: Soviet Space Graphics: Cosmic Visions from the USSR, 240 Seiten, 29,95€
Format: Hardback
Size: 270 x 205 mm (10 5/8 x 8 1/8 in)
Pages: 240 pp
Illustrations: 267 illustrations
ISBN: 9781838660536
Ein Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt.