HBO
The Leftovers klärt das Mysterium am Ende nicht auf und ist gerade deswegen so befriedigend. Im perfekten Serienfinale vermischen sich Lüge und Wahrheit in den Erzählungen der Figuren zu einer Geschichte über die Existenz des Menschen – und was wirklich zählt.
Bevor Nora Durst (Carrie Coon) sich auf den Weg nach Australien machte, um eine hochentwickelte Technologie zu nutzen und den Verschwundenen in ihre Welt zu folgen, muss sie vor der Kamera noch einmal Stellung nehmen. Ja, sie ist zurechnungsfähig. Ja, sie will wirklich ihre Kinder wiedersehen. Ja, sie ist sich der Risiken und der Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs bewusst. Aber man glaubt Nora Jamison Durst nicht. Sie beteuert wiederholt aufrichtig ihre Intentionen, doch am Ende, wenn sie ihren Blick direkt in die Kamera richtet, richtet sie sich auch an uns und entweder glauben wir ihr hier – oder nicht. Wie wir uns entscheiden als Zuschauer, sagt mehr über uns als über Nora aus. Damit legt The Leftovers bereits dank der großartigen Regie von Mimi Leder und dem Drehbuch aus der Feder von Damon Lindelof sowie dem Autoren der Buchvorlage, Tom Perrotta, den Grundstein für das Serienfinale.
Das Konzept der (bequemen) Lüge hat The Leftovers zu genüge untersucht. Insbesondere die (nicht mehr so) geheime Hauptfigur Nora (die fabelhafte Carrie Coon, deren Darbietung in diesem Finale Worte nicht Genüge tun) lügt, dass sich die Balken biegen. Am schlimmsten: Sie belügt sich selbst. Nun, am Ende, wissen wir immer noch nicht, ob sie lügt. Vielleicht weiß sie es auch selbst nicht. Gerade deshalb ist das Finale so spannend.
The Leftovers war schon immer eine Serie aus einer guten Mischung aus Show and Tell. Kurioserweise bricht die Serie das Drehbuchgesetz und lässt uns nichts von dem sehen, was die Figuren sich gegenseitig erzählen. Stattdessen sehen wir ihre Gesichter. In den insgesamt nur 28 Folgen, die diese wunderbare Serie aufweist, gibt es oft diese tiefgehenden Gesprächen, in denen am Ende nur noch die Gesichter der Figuren den Bildschirm einnehmen und wir ganz intim ihren Geschichten lauschen. Wir wissen nicht immer, ob sie stimmen. Oft sind es ohnehin nur Perspektiven der Wahrheit, die jedoch viel über die Erzählerin oder den Erzähler aussagen. Und so ist auch das Ende von The Leftovers ein ganz intimer Moment, in dem wir Lüge nicht mehr von der Wahrheit unterscheiden können. Die Serie argumentiert in den drei Staffeln, dass dies jedoch kein Problem sein muss. Für die, die nicht aufgepasst haben, ertönt auch zu Beginn wieder der alte Theme Song”Let The Mystery Be”.
Dabei ist The Leftovers im Serienfinale so nah dran, das Mysterium zu lösen, wie noch nie zuvor. Nora verabschiedet sich in einer herzzerbrechenden Szene von Matt. Christopher Eccleston brilliert in der Szene, als er Matts Ängste hinsichtlich seiner Krebserkrankung erläutert und damit aber auch gleichzeitig sowohl die so oft von The Leftovers analysierte menschliche Existenz als auch Noras Beweggründe erklärt. Dann betritt Nora einen LKW-Anhänger, in dem etliche Batterien und Laser und sonstiger Technologiekram stehen, in dessen Mitte eine kugelförmige Kammer wartet. Diese wird sich mit Wasser füllen und Nora dann nackt an den Ort der Verschwunden schicken. Der Terminator lässt grüßen. So sehr hat die Serie sich noch nie in Richtung Science-Fiction bewegt und große Zweifel kommen auf, doch Nora zieht die Sache durch. Ihre Nacktheit unterstreicht die Verletzbarkeit sowie ihre große Verzweiflung, die zu dieser Situation führen. In der letzten Sekunde, bevor wir “Sarah” in Australien und das Ende von The Book of Kevin erneut sehen dürfen, öffnet Nora ihren Mund, um etwas zu sagen. Es passiert blitzschnell und kann beim ersten Eindruck so wirken, als ob sie nur noch einmal nach Luft schnappt, doch es ist beim zweiten Schauen sehr klar: Nora ist kurz davor etwas zu schreien.
Wir werden nie erfahren, ob Nora tatsächlich dann in die Welt der Verschwundenen transportiert wurde oder ob sie mit voller Kraft “Stop!” rief und dann enttäuscht und blamiert aus der Kugel ausstieg. Vielleicht war sogar das ganze Theater der beiden Wissenschaftlerinnen ein ausgeklügelter Witz oder ein perfides, psychologisches Experiment, um zu sehen, wie weit die Leute tatsächlich gehen würden. Jede Theorie, die sich über den Ausgang der Eröffnungsszene und die anschließenden, nicht gezeigten Konsequenzen ermöglicht, erscheint thematisch logisch und gleichmäßig ertragreich. Das bedeutet auch, dass es keine Rolle spielt, was wahr ist. Welche Geschichte auch immer Nora für sich auswählt, ist die richtige.
In Australien lebt Nora etliche Jahre (es dürften wohl so ungefähr fünfzehn sein) irgendwo im Nirgendwo. Kevin (Justin Theroux) ist nicht zum weltweit bekannten Jesus geworden, den nun auch Nonnen im Outback kennen (eine Theorie zum Beginn der Staffel), sondern ein ganz normaler Mann mittleren Alters, der nach seiner alten Liebe sucht. Er scheint plötzlich vor Noras Haustür und lädt sie zu einem Tanz in einer nahe gelegenen Stadt ein. Kevin scheint gut drauf zu sein. Er ist erleichtert, dass er Nora gefunden hat. Gleichzeitig beteuert er aber, dass die beiden sich nicht kennen. So will er sie zuvor ausschließlich bei dem Tanzabend in Mapleton kurz und auf dem Amtsgericht gesehen haben. Was ist nun passiert? Handelt es sich doch um die Parallelwelt? Verzweifelt ruft Nora Laurie an, die gerade ihren großmütterlichen Pflichten nachkommt (Jills Baby, Ehe super. Tommy? Nicht so sehr, aber es geht ihm gut). Schön zu sehen, dass Laurie sich doch nicht umgebracht hat, selbst wenn sie es plante und es zur Folge gepasst hätte. Es verwirrt, dass Laurie doch noch lebt und so glücklich ist. Und dann beteuert Kevin erneut in einem herzzerbrechenden Moment, dass er Nora zuvor noch nie gesehen hat.
HBO
Natürlich stellt sich heraus, dass nichts Übernatürliches in dieser Welt stattgefunden hat. Nora lebt einfach zurückgezogen irgendwo in Australien und Kevin hat jahrelang vergeblich nach ihr gesucht. Punkt. Kevins Reise in die Hotelwelt war bereits in der letzten Woche klar als eine außerordentliche Psychose deklariert worden, doch nun kann auch der restliche Zweifel beseitigt werden. Er litt an einem Herzfehler und dieser wird wohl – irgendwie – sein mehrfaches “Sterben” erklären können. Restzweifel bleiben natürlich bestehen, doch der Flirt mit dem Übernatürlichen endet bei The Leftovers immer in der harschen Realität. Diese versuchen sich die Figuren schön zu reden. Die Serie ist nie vor den großen, schwierigen und schreckenerregenden Fragen zurückgezuckt und hat sie stets auf einem intimen und persönlichen Level geklärt. Figuren bieten ihre Perspektive an und man kann sie annehmen oder nicht, aber immerhin wird man sie verstehen.
Deshalb ist Kevins Wunsch nach einer schönen Geschichte auch so menschlich und äußerst gut nachvollziehbar. Dieser Drang nach einer Story, die man gerne erzählt, wird noch durch das Hochzeitssetting unterstrichen. Gerade hier offenbaren betrunkene Freunde vielleicht, dass sich Mäxchen mit Sabinechen eher auf Tinder als total romantisch in einem Buchladen kennengelernt haben. Und Kevin würde eben sehr gerne den ganzen Scheiß mit Nora vergessen machen. “We fucked up”, sagte er in der letzten Woche zu sich. Nun scheint er seinen bösen Zwilling vernichtet zu haben, ein neuer Mann steht vor Nora Durst und will einen Neuanfang. Sie erkennt die guten Intentionen und lässt ihn wieder an sich ran.
The Leftovers war immer eine Serie über das Zueinanderfinden in dem Chaos des Universums. Das kosmische Mysterium im Zentrum der Serie mag übernatürlich sein, löst aber doch die gleichen Fragen aus, die auch uns täglich plagen. Scheinbar übernatürliche Ereignisse sind mit der Zeit natürlich zu überwinden. Jill und Tommy scheinen Glück gefunden zu haben, Jarden wird nicht mehr Miracle National Park genannt, Laurie scheint in der Rolle als Oma aufzugehen und selbst Kevin Sr. ist irgendwo noch mit 91 Jahren am rumkicken. Die kommende Generation kennt den Sudden Departure nur noch aus Erzählungen. Auch Nora geht es gut; sie will lediglich jemanden, der ihr glaubt und für sie da ist.
Und so endet The Leftovers in einem Gespräch zwischen zwei tief verletzten Menschen mit einer Reihe an Problemen, die jedoch dann zueinander finden – weil sie es wollen. Nora erzählt Kevin, dass sie durch die Maschine ging und in der anderen Welt auf ihre Familie traf. Dies gestaltete sich zunächst schwieriger, da in dieser Welt nicht zwei, sondern die anderen 98% der Menschheit verschwunden sind. Diese Spiegelung unterstreicht erneut deutlich die von vielen Figuren empfundene Trennung. Wie Puzzlestücke, die eigentlich zusammengehören und trotzdem nicht in die richtige Lücke wiederfinden können. Als Nora dann ankommt, muss sie ohnehin erkennen, dass ihre Lücke bereits geschlossen wurde. In einer Welt voller Waisen ist ihre Familie noch ganz gut weggekommen, die Kinder haben ihren Verlust gut verarbeitet und haben eine neue Mutter. Nora The Ghost findet ihren Frieden und kehrt zurück in unsere Welt, weil hier ihr Platz ist. Ihre Geschichte ruht auf vagen Erklärungen, doch das spielt keine Rolle. Nicht für sie, und auch nicht für Kevin. Auch nicht für uns. Sie ist hier, das ist das Wichtige. Er greift nach ihrer Hand und die beiden strahlen sich mit tränenden Augen vor Glück an. Sie haben sich wieder.
Wenn Nora, die das mit Abstand schrecklichste Schicksal in der Serie getroffen hat, wieder glücklich werden kann, dann kann es für jeden ein Happy End geben. Vielleicht erst mit genügend Abstand. In ihren Interviews mit den 121 Fragen, konzentrierte sich die letzte Frage auf die Haltung gegenüber den Verschwundenen: Glaubt die befragte Person, dass die Verschwundenen an einem besseren Ort sind? Nora kann die Frage nun für sich und ihre Familie beantworten.
HBO
Die letzte Einstellung strotzt vor Symbolik. Die Leiter steht noch neben dem Haus, als Warnung oder Vorzeichen, dass erneut jederzeit eine Aufregung oder Angst vor kommenden Ereignissen aufkeimen kann, jedoch irgendwann verfliegen wird. Das Chaos im Garten, das die beiden Liebenden umgibt, stellt einen schönen Kontrast zu der Wärme der Figuren dar, die aus dem Fenster strahlt. Der Sonnenuntergang symbolisiert das Ende der Serie, aber auch den beginnenden Lebensabend, dem Nora und Kevin nun gemeinsam begegnen werden und dann wären da natürlich noch die Brieftauben, die nach tagelanger Abwesenheit doch überraschenderweise auftauchen. Natürlich haben sie ihre Nachrichten abgeliefert, was erneut unterstreicht: Auch in jeder Lüge kann ein Stück Wahrheit stecken.
Darüber hinaus verbinden die Tauben die Serie erneut zur christlichen Bibelgeschichte. Die buchstäbliche Flut, wie Kevin Sr. sie befürchtet, ist vielleicht nicht gekommen. Doch die Zeit nach dem Plötzlichen Verschwinden mag zumindest von einigen Figuren so empfunden worden sein. Als bekämen sie keine Luft, als würden sie das metaphorische Land nicht mehr finden. Und nun, passend zum Zusammenkommen der Figuren, die in ihrer verflossenen Liebe doch den Sinn ihrer Existenz entdecken, kehren auch die Tauben mit der frohen Botschaft zurück. Genau wie bei Moses und seiner Arche. Die Flut ist vorbei. Wenn wir es wollen. Oder daran glauben. Aber wo ist da der Unterschied?
Zitat der Folge: “I like to get a little lost.”
– Sollte nicht vergessen werden: Die Maskenbilder haben in dieser Folge Unglaubliches geleistet und Justin Theroux, Amy Brenneman und Carrie Coon in einer glaubwürdigen und dezenten Weise altern lassen, wie man es selten sieht. Auch Justin Theroux‘ Stimme, besonders bei der ersten Begegnung mit Nora, war authentisch gebrechlich.
– Ob real oder eingebildet, das Echo von Noras Kindern, als sie den LKW betritt, war ein purer Gänsehautmoment.
– Grandios: Nora ist nach meiner Rechnung die 122. Person, die die Maschine benutzt. Sie verkörpert quasi die Antwort am Ende aller Fragen.
– Es ist kurios, wie sehr The Leftovers als Parabel für Damon Lindelofs Kampf um das Ende von Lost angesehen werden kann. Der Showrunner glaubt bis heute, dass die Reaktion auf das Finale der ABC-Serie hauptsächlich negativ ausfiel, was ihm sehr viel ausmachte. Interessant ist auch, wie sehr die Staffeln diesem persönlichen Kampf ähneln. Zunächst war da eine tiefe Depression, dann nahm er es mit Humor und nun in der 3. Staffel schien DAS ENDE in riesigen Buchstaben über allem zu schweben. Würde er es erneut versauen, könnte das Finale erneut alle Fans der Serie enttäuschen? Das Gelöbnis des Bräutigams, nie bewusst einen Fehler zu machen, sich aber für Fehler zu entschuldigen, kann durchaus als Lindelofs Argumentationslinie in den Diskussionen um das Ende gelesen werden. Es gibt mehr Szenen aus der gesamten Serie, die man zu weiteren Vergleichen heranziehen könnte, aber diese sticht – insbesondere im Finale – heraus. Aus meiner Sicht muss er sich nicht rechtfertigen, aber wenn The Leftovers die Entschuldigung ist, dann sei ihm doch hier bitte von allen enttäuschten Fans auf ewig vergeben.
– Zu guter Letzt möchte ich mich dann noch fürs Mitlesen bei den wenigen, treuen Seelen über die Jahre hier bedanken. The Leftovers für moviepilot zu betreuen war mir eine große Ehre. Vielen Dank an die Freunde in Berlin für diese Möglichkeit und die Betreuung. Und natürlich ein großer Dank an die Autoren, Regisseure, Schauspieler, die Kreativen und HBO, die diese außerordentliche Serie möglich gemacht und realisiert haben.