We Are All Gone – Review: The Leftovers S03E06 - PewPewPew


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Alle wollen, dass Kevin Garvey stirbt. Es wird Zeit, dass etwas Besinnung in The Leftovers einkehrt. Bevor die Serie also in den großen Finalfolgen den Hauptfiguren die Bühne zur Verfügung stellt, widmet sich The Leftovers in einer der schönsten und traurigsten Stunden der Serie Lauries Schicksal.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ich heute zum letzten Mal mit meinem Großvater gesprochen habe, ist relativ groß. Persönliche Erzählungen in der ersten Person soll ein Kritiker ja vermeiden. Persönliche Meinung? Gerne. Doch das Privatleben des Kritikers sollte keine Rolle bei der Bewertung spielen. Doch ich kann nicht umhin zu bemerken, welche Parallelen sich aktuell auftun und welche Lektionen sich daraus ergeben. Nun sind die Situationen wahrlich nicht gleich. Certified erzählt von Lauries Suizidversuchen, während ich einem alten, sterbenden Mann Auf Wiedersehen sagen muss, aber es ist verblüffend, wie ähnlich die Gespräche, aufs Wesentliche reduziert, sich gestalten.

Die 6. Folge der 3. Staffel von The Leftovers beginnt zunächst wie so oft mit einem Cold Open. Eine junge Frau erzählt von dem Verlust ihres Sohnes am Tag des Sudden Departures. Nach einiger Zeit erinnern wir uns: Es ist die Frau aus der ersten Szene der Serie, die wie so viele andere Menschen in dem Moment des Verschwindens die betroffenen Personen wegwünschten. In diesem Fall war es ihr Sohn, der laut ihrer Theorie jederzeit wieder zurückkehren könnte. Zwei Jahre sind seit dem schicksalhaften Tag vergangen. Gerne würde die Mutter wissen, was sie tun soll: Endlich loslassen oder vielleicht doch warten, falls plötzlich ein Zweijähriger auf dem Parkplatz wieder auftaucht, der nach seiner Mutter schreit?

Deshalb ist sie zu Laurie gekommen, die auch zwei Jahre nach dem Sudden Departure noch ihren Beruf als Therapeutin ausübt. Laurie, die ebenfalls am 14. Oktober ein Kind verlor, erfährt durch die Schilderung der jungen Frau einen Schock. Sie kann ebenfalls keine Antwort auf die Fragen der Mutter finden. Einige Minuten später steht sie in ihrer Dusche und erbricht alle Tabletten, die sie kurz zuvor noch freiwillig verschlang, um ihr Leben zu beenden. Sie überlegt es sich anders. Stattdessen trennt sie sich von allem Weltlichen, zieht sich weiße Klamotten an und geht auf die zwei Frauen zu, die vor ihrer Praxis Zigaretten rauchen.

“Sagt mir, was ich tun soll.”

Mit diesen Worten begab sich Laurie Garvey (Amy Brenneman) in die Hände der Guilty Remnant; genau jener Sekte, die glaubt, dass das Plötzliche Verschwinden nicht vergessen gemacht werden kann und das Leben eigentlich aufgehört hat. Ihre Mission ist daher, die restlichen Hinterbliebenen ständig an das Ereignis zu erinnern. Es ist kein körperlicher Suizid, aber in gewisser Weise zumindest ein gesellschaftlicher. Die Guilty Remnant ist in dieser Staffel buchstäblich pulverisiert worden. Sieben Jahre nach dem kosmischen Ereignis hat The Leftovers keinen Platz mehr für diese verständliche, wenn auch krasse Reaktion auf das kosmische Schauspiel. Doch zumindest der Kerngedanke bleibt erhalten: Was, wenn das Leben tatsächlich aufgehört hat und nichts mehr besser wird – wenn es keine Antwort auf die existenziellen Frage gibt? Was dann?

The Leftovers gelingt es immer wieder auf faszinierende Weise, grundlegende Wahrheiten über unsere Existenz anhand des übernatürlichen Ereignisses runterzubrechen. Wir können jederzeit sterben. Unsere Zeit auf der Erde ist begrenzt. Und der Sudden Departure hat diese Ohnmacht gegenüber der Zeit und das Gefühl, dem Schicksal völlig ausgeliefert zu sein, sehr ins Zentrum gerückt. Eben diese Ohnmacht führt zu der Unsicherheit, die Laurie und viele andere verspüren. Am liebsten würden sie wie Schulkinder gesagt bekommen, was sie tun sollen. Doch tief in uns wissen wir: Niemand hat Antworten.

Von daher haben die Guilty Remnant vielleicht ja, trotz zweifelhafter Methoden, doch einen Punkt gehabt. Eigentlich sind wir ja sowieso alle bereits wandelnde Tote, für die es keinen Sinn im Leben mehr gibt. The Leftovers fokussiert sich nicht ausschließlich auf diese Verzweiflung, aber es fällt schwer, aktuell, am Ende des 2. Aktes dieser Staffel, nicht erneut den bierernsten Pessimismus der 1. Staffel zu spüren. Bereits die stets offensichtlichen Lyrics des dieswöchigen Introsongs verraten uns genau, was die Serie übermitteln will (Es ist übrigens verblüffend, nein, fast schon ärgerlich, dass man nicht Don’t You Forget About Me von den Simple Minds genommen hat):

So you wanna die, commit suicide
Dial 1-800-Cyanide line
Far as life, yo it ain’t worth it
Put a rope around your neck and jerk it
The trick didn’t work
Your life was fucked up from the first day of birth

Bereits in der 1. Staffel gab uns The Garveys At Their Best einen Einblick in das Leben der Figuren vor dem Tag des Plötzlichen Verschwindens – und nichts war besser. Die Figuren litten trotzdem bereits an ihren alltäglichen und individuellen Problemen. Wie kann man also weitermachen? Stanley Kubrick hat einmal im Interview mit dem Playboy bei einer Diskussion von 2001 gesagt:

The most terrifying fact about the universe is not that it is hostile but that it is indifferent; but if we can come to terms with this indifference and accept the challenges of life within the boundaries of death — however mutable man may be able to make them — our existence as a species can have genuine meaning and fulfillment. However vast the darkness, we must supply our own light.

Und wenn das bedeutet, dass man seinen Sohn in einer Wassergrube ertränken muss, um die Welt zu retten, und das den Sinn des eigenen Lebens darstellt (und man dann glücklich sterben kann, selbst, wenn das einen Tod im Gefängnis bedeutet), dann sei es eben so. “Sometimes you have to pretend.”

Laurie hat jedoch aufgehört, zu kämpfen. Sie erkennt, dass es allen Figuren schlecht geht und es wohl auch nicht mehr besser wird. Matts Krebs ist zurück, seine Frau hat ihn verlassen. Nora, John und Grace werden immer ihren Kindern hinterhertrauern. Kevin Sr. ist verrückt und will seinen Sohn umbringen, der das tatsächlich auch noch aufgrund seiner eigenen psychischen Probleme für eine gute Idee hält. Laurie erkennt, dass alle Bewältigungsstrategien irgendwo ihre Berechtigung haben und man die Menschen in der Konfrontation mit Sterblichkeit und der Vergänglichkeit des Lebens nicht stören soll. Im Panorama der Bedeutungslosigkeit navigiert sie sich also von Fall zu Fall und versucht, ihren Patienten so gut wie es geht zu helfen.

Teilweise gelingt ihr sogar ein Erfolg. Nora realisiert am Ende ihres Weges (buchstäblich, sie steht an einer Klippe), dass sie lange Zeit als Spielverderberin gelebt hat, die die Bewältigungsmechanismen anderer Menschen aus purem Egoismus zerstört hat. Sie erzählt, wie sie und Matt als Kind einen schönen Moment mit einem Strandball nach dem Tod ihrer Eltern hatten, nur um ihn von einem Ordner zerstört zu bekommen. Nach all den Jahren des frenetischen Suchens versteht sie, dass sie zu genau dieser Person geworden ist. “Wer macht so etwas?!”, fragt sie sich erschrocken. Die passiv-aggressive Nora zum Beginn der Leftovers-Folge ist verschwunden, hier sehen wir eine zutiefst unglückliche Frau, die nur noch ihrem Leiden ein Ende setzen will. Fast schon kindlich fällt sie Matt in die Arme. Laurie versucht noch die Wogen zu glätten und erklärt, dass einige Menschen eben stark sein und die Regeln einhalten müssen, sodass die Gesellschaft nicht im Chaos versinkt. Doch der Schaden ist angerichtet. Nora will nicht mehr. Ein Abschied von der Figur wäre hier auch ohne Max Richters musikalische Untermalung tieftraurig und imposant, doch wir werden Carrie Coon sicherlich nicht das letzte Mal gesehen haben.

Dahingegen treffen sich jedoch Kevin und seine Exfrau definitiv zum letzten Mal. Beide ertrinken am Tag des Sudden Departures auf unterschiedliche Art und Weise, aufgrund verschiedener Motive. Doch im letzten Aufeinandertreffen, dessen Finalität sich beide bewusst sind, fallen einst schwere Worte mit einer verblüffenden Leichtigkeit. Frühere Barrieren fallen, zwei Menschen sehen sich endlich losgelöst von allen Hindernissen als das, was sie wirklich sind.

Nachdem Laurie die hungrigen Mäuler am Essenstisch betäubt hat, kann sie sich dem Mann ihrer Kinder widmen. Dieser ist weiterhin in seiner Wahnstörung gefangen, doch Laurie lässt ihn ziehen. Nichts hält sie mehr in dieser Welt, und dass beide das Kind, das Laurie am 14. Oktober 2011 verlor, nicht wollten, ist auch für beide o.k. In einer Welt, deren bevorstehender Untergang auf globaler und individueller Ebene (sowie auch auf der Meta-Ebene, immerhin bleiben uns nur noch zwei Folgen) zu spüren ist, fallen persönliche Wahrheiten plötzlich leicht: “We are all gone”, sagt Laurie zu ihrem Mann.

Die Therapeutin agierte besonders in dieser letzten Staffel von The Leftovers als Stimme der Vernunft. Was bedeutet es also, wenn sie sich nun am Ende umbringt. Besonders nach diesem erfreulichen Telefongespräch mit ihren Kindern? Natürlich erkennt sie, dass ihre Kinder zusammen glücklich sind und vielleicht halb unbeschadet aus der ganzen Misere noch entfliehen können. Doch der Moment ist so herzergreifend, dass ihr darauffolgender Suizid umso mehr schmerzt. Und von dem gehe ich aus. Man darf mir gerne in den Kommentare widersprechen, aber ein normaler Tauchgang würde dem gesamten Spannungsbogen und Lauries Entwicklung entgegenwirken.

The Leftovers findet auf den letzten Metern zurück zur auswegslosen Hoffnungslosigkeit der 1. Staffel. Jetzt kann uns nur noch Kevin-Jesus retten.

Zitat der Folge: “I don’t know how I got there, and by ‘there’ I mean here.”

– Hausaufgabe: Unbedingt vor nächster Woche noch einmal International Assassin aus der vergangenen Staffel nachholen.

– Prognose: Nora wird tatsächlich durch die LADR-Machine der zwei lesbischen Physikerinnen wandern und im Hotel auf Kevin treffen, der dem Wunsch seiner Jünger Folge leisten wird. Es wird eine himmlische Reunion geben, deren bittere Realität von der schmerzhaften Realisation geprägt ist, dass beide sich eventuell nie wieder sehen werden – entweder weil Kevin wieder aufwacht oder Nora vielleicht tatsächlich durch die Maschine umgebracht wurde und nicht aus dem Hotel entfliehen kann.

– “I borrowed your pills.”

– Der Epilog der 1. Episode mit einer alten Nora hat der Staffel natürlich bereits zum Auftakt einen Knall mitgegeben. Doch inzwischen wirkt diese Prognose mehr als Hindernis als zusätzlicher Thrill. Nora und Lauries Abschied in Certified könnten als Abschied dieser Figuren agieren. Natürlich wäre der Wegfall von zwei Hauptfiguren vor den letzten zwei Folgen ein großer Verlust, but stranger things have happened! Noras Abschied wäre tatsächlich perfekt bezüglich der kontinuierlichen Faszination der Serie für die Dinge, die wir nie tatsächlich wissen können. Let the mystery be? Vielleicht, aber The Leftovers wird wohl noch etwas deutlicher werden, bevor alle Lichter ausgehen.

– “Sweet Loreley!” Ich werde Scott Glenns selbstsichere, verrückte Vaterfigur schwer vermissen.

– Today’s Special ist natürlich eine echte Serie.