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Halbzeit bei der finalen Staffel von The Leftovers. Vier Episoden vor dem Ende der Serie reisen Nora und Kevin mit unterschiedlichen Zielen nach Australien. Das Unterfangen stellt sich für beide sowie für ihre Beziehung als katastrophal heraus.
Bereits die ersten Worte der Episode G’Day Melbourne rücken den zentralen Konflikt der Staffel direkt in den Vordergrund. “Are you two together?”, fragt eine Mitarbeiterin des Flughafens Kevin und Nora. Diese alltägliche Frage ist für The Leftovers typisch bedeutungsschwanger. Natürlich reisen Kevin und Nora, gegen den gesunden Menschenverstand, gemeinsam nach Australien. Aber wirklich zusammen sind die beiden Partner schon lange nicht mehr. Sie waren schon immer ein ungleiches Team, doch zu diesem Zeitpunkt sind beide eigentlich auf sich alleine gestellt. Sie, die kontinuierlich verhinderte Mutter, greift verzweifelt nach der letzten Chance, irgendwie erneut mit ihren Kindern vereint zu sein. Und er, der suizidale Mann mit einer gravierenden psychologischen Erkrankung, folgt der letzten Verbindung zum Leben, die er hat. Beide verbindet trotz dem Happy End im Finale der 2. Staffel außer einer körperlichen Anziehung nicht mehr viel. Da ist die Katastrophe natürlich vorprogrammiert.
Sobald das Paar in Melbourne im Hotel angekommen ist, trennen sich ihre Wege auch schon bis zum Ende der Episode. Kevins Psyche bricht auf sich allein gestellt sofort ein. Im Hintergrund einer Fernsehsendung entdeckt er Evie Murphy und sofort begibt er sich auf den Weg zu ihr. Tatsächlich kann er sie noch erreichen, doch die junge Frau spricht mit ausländischem Akzent und scheint zum Islam konvertiert. Doch es ist Evie Murphy. Oder ein Zwilling. Kevin drängt sich ihr auf und wird von einem anderen Mann zurückgehalten. Er muss mit einem blauen Auge davongehen, konnte zuvor jedoch ein Foto mit dem Handy schießen. Und siehe da, es ist tatsächlich Evie Murphy! Könnte dies ein Beweis für Kevins Hotelaufenthalt sein? Sofort ruft er seine Exfrau Laurie an, um so John vom magischen Überleben seiner Tochter zu berichten. Trotz Lauries Bitten sucht er Evie wieder auf, die unter dem Namen Daniah Moabizzi in der Stadtbibliothek arbeitet. Dort angekommen, offenbart sich zunächst Evie: Sie ist weggelaufen, weil sie nicht mehr an das Konzept der Familie glaubt. Auch Kevin fühlt in Wahrheit so, meint sie; wieso sonst hätte er sprunghaft sein ganzes Familienleben und seine Verantwortung in Jarden gelassen?
Doch dann kommt der Twist. Die Frau ist nicht Evie Murphy, sie ist tatsächlich Daniah Moabizzi. Kevin hat in ihr nur Evie gesehen, weil er ihre Beweggründe verstehen konnte. Laurie erklärt ihm am Telefon, dass er wieder eine Psychose durchleidet. Seine Krankheit ist wieder mit voller Kraft zurückgekehrt und nur das Mitspielen der anderen hat ihn teilweise retten können, nicht noch tiefer abzudriften. Kevin realisiert, dass er keinen Schritt weiter ist. Er sieht erneut tote Menschen, irrt durch fremde Gebiete, verletzt sich dabei und sucht verzweifelt nach Antworten, die ihm keiner geben kann. Eines der beständigsten und zutreffendsten Themen in The Leftovers ist, dass nichts im Leben einfach so beendet wird. Weder Trauer, noch Depression oder psychische Krankheiten. Niemand trauert nur bis zu einem gewissen Punkt oder beendet psychische Erkrankungen von jetzt auf gleich. Stattdessen kommen die Probleme in Wellen oft wieder. Es ergibt sich ein lebenslanges, perfides Spiel aus Ebbe und Flut und gerade jetzt herrscht bei Kevin Hochwasser.
Nora ergeht es derweil nicht besser. Sie vermag vielleicht äußerlich noch als emotional gefestigt erscheinen und sie kann sich auch durchringen, erleidet in dieser Folge jedoch den finalen Schlag, der sie auf den Boden schickt – K.O. Ihr Treffen mit den Wissenschaftlerinnen, die sie möglicherweise zum Ort der Verschwundenen bringen können, verläuft katastrophal. Nachdem sie mehrere Tests erfolgreich durchläuft, wird ihr eine uns bereits bekannte Frage stellt: Würde sie den Tod eines Babys billigen, wenn im Gegenzug der Zwilling des Opfers Krebs heilen wird. Nora zögert. Stirbt das Baby qualvoll oder eher schnell und human? Muss sie es selbst umbringen oder nur den Tod absegnen? Handelt es sich bei den Babys um ihre eigenen Kinder? Schlussendlich knickt sie ein. Ja, okay, das Baby soll sterben. Immerhin sterben täglich Babys und im Umkehrschluss wird Krebs geheilt? Eine für sie naheliegende Entscheidung. Doch auch ihre Antwort ist falsch. Oder zumindest nicht die richtige, immerhin wissen wir bereits aus Crazy Whitefella Thinking, dass auch die Rettung des Babys nicht zur Aufnahme in das Programm führt.
Das Dilemma wirft natürlich etliche moralische und philosophische Gedankenspiele sowie Fragen zum Auswahlprozess der Doktoren auf. Handelt und denkt die Person utilitaristisch oder nihilistisch? Kann es eine gute Antwort geben? Geht es eher um die Begründung, die Nora anbietet, oder um das Gespräch über die Frage selbst? Gibt es überhaupt eine Antwort, die zum nächsten Schritt führt, oder ist dies nur ein weiterer Test, um den Willen der Bewerber zu überprüfen? Es gibt einige Anzeichen dafür, dass Nora gewisse Sachen sagt, die womöglich ins Schwarze treffen, schließlich hört ab einem gewissen Zeitpunkt selbst die so distanzierte Zweiflerin des Doktorduos gespannt zu. Aber wie auch immer, die Wissenschaftler brechen das Gespräch direkt ab und verabschieden sich abrupt. Nora bricht zusammen und flüchtet in ihr Hotelzimmer.
The Leftovers treibt das Spiel hier auf die Spitze. Der Zuschauer soll die Frustration mit Nora mitfühlen können, doch Antworten wird er wie auch die Hauptfigur wohl nicht erhalten. Bisher war es nie die Intention der Serie, sich in die eine oder andere Richtung zu lehnen. Kevins Schusswunde aus dem Finale der 2. Staffel zum Beispiel könnte ein Todesurteil sein, doch er hätte die Verletzung auch auf natürlichem Weg überleben können. Dafür muss er gar nicht der neue Jesus sein. Damon Lindelof und seine Autoren sind in Interviews stets bemüht, darauf hinzuweisen, dass die Serie Indizien sowohl für die eine als auch die andere Richtung gibt, Wissenschaft oder Glaube, dann aber jedoch die Figuren entscheiden lässt. Diese erkennen im Chaos ihre eigenen Muster, die durchaus beliebig wirken können. Aber da dies so ein natürlich existenzieller, tief menschlicher Reflex ist, ruft dies Empathie hervor – selbst wenn wir uns anders entscheiden würden, wir (er)kennen das Leid nur zu gut. Und so spielt es keine wirkliche Rolle, wie und ob man die Frage beantwortet. Die Frustration, so nahe an der möglichen Lösung zu sein und trotzdem nicht weiterzukommen, steht im Vordergrund.
Was uns zum emotionalen Höhepunkt der Leftovers-Folge führt. Gebrochen treffen Nora und Kevin nun im Hotel aufeinander. Beide merken, dass es dem Partner nicht gut geht, doch sie flüchten sich in Floskeln. Ja, klar, Kevin geht es gut. Nora (Carrie Coon) ist jedoch ohnehin schon aufgewühlt und bleibt hart. “Du kannst mir alles sagen.” Das ist natürlich eine blanke Lüge. Die Beziehung der beiden hat bereits mehrfach darunter gelitten, dass Kevin Nora nicht die Wahrheit sagt oder aus Angst vor Zurückweisung nicht sagen konnte. Nora ist dahingegen so gefangen in ihrer eigenen Welt, dass sie gar nicht erst daran dachte, Kevin zu Beginn der Episode einen Teil des geschmuggelten Geldes abzugeben. Kevin ist nur ein Anhängsel dieser Reise, höchstens ein Nachgedanke. Lediglich die Angst vor der Einsamkeit hält die Beziehung zusammen.
Musik war schon immer das Herzstück von The Leftovers. Während emotionale Momente früher von den intensiven Tönen von Max Richter nahezu ertränkt wurden, kündigte die 2. Staffel bereits im Intro eine neue Richtung an. Mit Let The Mystery Be richtete man sich direkt an den Zuschauer und in der 3. Staffel gehen die wenig subtilen, aber dafür äußerst passenden Nachrichten mit Personal Jesus oder dieses Mal This Love Is Over von Ray LaMontage weiter. Doch ganz zentral in dieser Episode ist der Einsatz von a-has Take On Me, das zunächst als Klavierversion, später als Bläserversion und zum Schluss im Original ertönt. Der Text des Liedes, mit seiner wörtlichen Übersetzung aus dem Norwegischen (Take On Me heißt etwa Fass mich an oder Berühr mich) hat durchaus einen Bezug zu der Beziehung Noras und Kevins, doch es ist das ikonische Video des Liedes, das die Emotionen der Figuren sehr treffend widerspiegelt.
Im Musikvideo versucht der Sänger aus seinem Comic-Gefängnis auszubrechen und in die reale Welt zu fliehen, um bei der Frau seiner Träume zu sein. Dies gelingt ihm am Ende und das Glück steht den beiden Liebenden in den Gesichtern geschrieben. Doch wie es weitergeht, verschweigt die Geschichte des Videos ganz ähnlich wie viele Romantische Komödien. Selbst in die größte Liebesbeziehung drängt sich irgendwann der Alltag hinein und wenn die beiden Partner ohnehin bereits mit so vielen Problemen wie Kevin und Nora zu kämpfen haben, dauert dies nicht lange. Die naheliegende Lösung wäre daher der Austausch. Communication is key! Aber selbst drei Jahre nachdem Kevin Garvey sich ähnlich wie der Sänger von a-ha nur durch seinen puren Willen von einer Realität in die nächste sang, um zu Nora und seiner Familie zurückzukehren, hat er seiner Freundin alles verschwiegen. Drei Jahre an angestauten Vorwürfen entladen sich binnen Sekunden und Kevin sagt etwas, das schlimmer als eine normale Trennung nachhallt: Nora soll doch dahin verschwinden, wo ihre Familie hin ist. Er geht nach draußen und trifft auf seinen Vater, der ihn in den Arm holt. “Ist das real?”, fragt sein Sohn, als gerade Chaos in Melbourne auf Grund einer Explosion herrscht. “Natürlich ist das real”, antwortet Kevin Sr., der mit Grace den Sohn zufällig im Fernsehen entdeckt hat. Real ja, aber realistisch? Das bleibt, wie so oft, dem Zuschauer überlassen. Möglich ist es schon, dass Kevin kurz im Hintergrund der geliebten Morgenshow zu sehen war, aber vielleicht haben auch höhere Mächte Vater und Sohn zusammengeführt.
Im Hotelzimmer bleibt Nora alleine zerstört zurück. Nora The Cursed ist erneut ohne Familie und kann wieder nicht weinen, stattdessen laufen ihr in einem der schönsten Shots der Serie (mit Dank an Regisseur Daniel Sackheim) die Wassertropfen der Feuerlöschanlage über die Lider, die zu einem Schwall an Tränen verschwimmen. The Leftovers lässt mich, ehrlich gesagt, hier ebenfalls sehr zerbrochen zurück. Neue Liebe findet sich in der Serie häufig und auch wahre, hingebungsvolle Beispiele werden aufgezeigt, doch schlussendlich scheint jede Beziehung in der Serie zu zerbrechen. Selbst Matt, der sich jahrelang für seine Frau aufopferte, wird zurückgelassen. Inwiefern der Sudden Departure, die Prämisse der Serie, sieben Jahre später noch in den individuellen Beziehungen einen Effekt hat, ist unterschiedlich und streitbar. Stattdessen scheint die Serie zu argumentieren, insbesondere in dieser Folge, dass jeder Mensch schlussendlich immer in seiner eigenen Realität leben wird und nie wahrhaftig die Einsamkeit dieser Dimension durchbrechen kann. Sie wird sich eventuell mit denen anderer Menschen kurzzeitig kreuzen, aber so wirklich scheint es niemanden zu interessieren, wie es dem anderen Menschen geht. Natürlich beteuern die Partner dies immer wieder, doch inwiefern sie von den Abgründen im Partner wissen wollen oder wie viel man dem Partner aufladen will, bevor die Beziehung in Gefahr gerät, bleibt trotzdem eine explosive Frage.
Zitat der Folge: “Kevin, are you and Nora okay?”
– Mark Linn-Baker ist mit der Maschine zu den Verschwundene gereist, womit jetzt der gesamte Cast von Perfect Strangers – wo auch immer – vereint ist.
– Die Möglichkeit, dass die Verschwundenen womöglich in eine andere Zeit oder an einen beliebigen Ort im Weltall transportiert wurden, hatte ich noch nie so wirklich in Betracht gezogen. Die Hinterbliebenen scheinen oft gar nicht in Betracht zu ziehen, dass es eine ganz wissenschaftliche Erklärung für das Ereignis gibt, die Verschwundenen aber einfach irgendwo tot um den Jupiter kreisen. Was für eine fürchterliche Vorstellung, dass unsere Nora dort landen könnte. Hoffentlich geht es Mark Linn-Baker gut.
– Natürlich hat Kevin seine Methoden und Probleme auch zum Beginn der Staffel, aber mich beschleicht das Gefühl, dass neben Noras Distanzierung vor allem die neue Bibel über ihn der erste Schritt auf dem Weg zurück in die Psychose war. Wie traurig, dass seine besten Freunde ihm damit nur geschadet haben. Kein Wunder, dass er sich so weit wie möglich von ihnen entfernen will und Nora sofort nach Australien folgt.
– Die angesprochene Explosion am Ende der Episode wird noch interessant werden.
– Eine der Wissenschaftlerinnen heißt Dr. Eden. Ich liebe es, wie oft die Szene nicht zurückschreckt, sehr direkt und frech zu sein! Das Fehlen von Prätention verwandelt diese Spielereien zum Augenzwinkern an den Zuschauer.