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Nach dem Familienfest im Staffelauftakt widmet sich The Leftovers in der 2. Folge der 3. Staffel wieder nur einer Figur. Wir folgen der verlorenen Mutter Nora Durst auf einer Reise, deren gleichzeitig tragische und witzelnde Inszenierung noch einen weiteren Sprung nach oben für die Serie darstellt.
Als The Leftovers vor drei Jahren startete, fühlte ich mich gerade besonders empfänglich für den bierernsten Ton der Serie. Sie war nicht nur die neue, spannend klingende Serie von Lost-Schöpfer Damon Lindelof, auf die ich mich als Fan seines ikonischen ABC-Meisterwerks freute, sondern überraschenderweise auch extrem mitreißend. Mein seelisches Empfinden fand bei The Leftovers seinen Widerhall. Als die 2. Staffel dann mit einem neuen Intro begann und wesentlich spielerischer sowie experimentierfreudiger wurde (fast die gesamte 1. Episode der 2. Staffel verweigert uns eine Minute mit den Garveys sowie mit irgendwelchen bekannten Figuren oder Orten), setzte ein Lernprozess ein. The Leftovers kann Spaß machen? Und mit meinem eigenen Befinden gestaltete sich auch die Serie simultan häufig hoffnungsvoller. Auch wenn die Figuren zunehmend von ihren Plagen auf dem Boden der Tatsachen gehalten werden, entwickeln sich zumindest teilweise leichte Momente, die das Leben wieder positiver wirken lassen.
Das bringt uns nun in zweierlei Hinsicht zur neuen Folge. Zunächst einmal lassen Damon Lindelof und seine Autoren einen Running Gag der Serie in einem wundervollen Meta-Moment explodieren, der die Herzen aller Serienfans höher schlagen lässt und so mutig ist, dass dieser Schritt noch jahrelang im Gedächtnis bleiben wird. Dann lassen Lindelof und Tom Perrotta, Autor der Buchvorlage, diesen Gag aber zum emotionalen Höhepunkt der Folge wachsen.
Die sehr hübschen Übergänge von Regisseurin Mimi Leder im Staffelauftakt führten dazu, dass das Cold Open ohne Titelsequenz direkt in die restliche Folge mündete. Lange haben sich Fans Gedanken gemacht, wie The Leftovers das Spiel mit der Titelsequenz beenden würde. Nach den tragischen Klagen der Streicher von Komponist Max Richter und dem suburbanen Post-Departure Fresko in der 1. Staffel sowie dem lockerleichten Let The Mystery Be von Iris DeMent kommt zuletzt nun leider keine komplette Umgestaltung. Stattdessen ertönt das Perfect Strangers-Theme (in Deutschland als Ein Grieche erobert Chicago ausgestrahlt), passend zu Mark Linn-Bakers überraschendem Cameo. Linn-Baker, der in der beliebten Serie Larry Appleton mimte (und dessen Catchphrase “Don’t be ridiculous!” den dieswöchigen Episodentitel beisteuert), kehrt nach einem kleinen Auftritt in der 2. Staffel zurück. Bereits in der 1. Staffel wurde kurz erwähnt, dass die vier Hauptdarsteller der Serie alle verschwunden wären, was innerhalb des Leftovers-Universums zu einem neuen Fan-Interesse bzgl. der Serie führte. Später stellte sich heraus: Linn-Baker hat sein Verschwinden gefälscht, ähnlich wie Nora Durst wurde er von vier anderen, ihm nahestehenden Personen zurückgelassen.
Diese statistische Gemeinsamkeit ist aber nicht der einzige Fakt, der die beiden in dieser Folge zusammenführt. Ähnlich wie Nora Durst verlangt Mary Linn-Baker, der Zweifel an seiner Verfasstheit und Überzeugung entschlossen zurückweist, nach einem Gefühl der Kontrolle. Das wäre auch höchste Zeit. Wie die Folge nicht müde wird zu betonen, kann Nora kaum einen Aspekt in ihrem Leben unter Kontrolle halten. Sie kann weder die Gerüchte um den verstorbenen Mann auf der Säule in Jarden kleinhalten, noch kann sie die Maschinen auf ihrer Reise zur Kooperation zwingen. Dass man sich bei Flugreisen in die Hände von begabten Piloten und hoffentlich funktionierenden Flugzeugen begibt, braucht die Folge ohnehin nicht erst zu betonen.
Für Nora ist es leicht, Kontrolle zu ergreifen, wenn sie die Chance dazu hat. Sie schreitet ein, als Baby Lily – jetzt kein Baby mehr und mit anderem Namen wieder bei Mutter Christine (Annie Q.) – ein Schäufelchen gestohlen bekommt. Sie willigt schnell ein, als ihr die Einladung zu einem Treffen mit Linn-Baker und die spätere Reise nach Australien angeboten wird. Und sie öffnet die Schranke mit eigenen Händen – welch schönes Bild für den Rest der Leftovers-Staffel.
Denn diese Episode rückt Nora Durst beim Abbiegen auf die Zielgeraden völlig zu Recht ins Rampenlicht. Sie ist die Interessante der Serie. Womöglich haben wir bereits einige Figuren zum letzten Mal gesehen, einige scheinen ihren Platz (wie zum Beispiel die restliche Garvey-Familie) auch gefunden zu haben. Doch mit Kevin verbleibt uns ein tief gebrochener Mann, der jedoch auch – das zeigte uns The Garveys At Their Best sehr deutlich – bereits vor dem Sudden Departure mit einigen psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Auch das Familienleben der Garveys war zerbrochen, ein Baby sollte das Patchwork zusammenhalten.
Dagegen wirkte Nora ähnlich geplagt, aber eher von alltäglichen Lasten. Ihr unbeschreiblicher Verlust, der sich durch die unerklärlichen Geschehnisse schlicht nicht verarbeiten lässt, macht sie zur interessantesten Figur der Serie. Ihr Bruder Matt, der mit ihr den Verlust der Eltern (und jetzt auch seiner neuen Familie) durchlitt, begab sich als Reaktion in die Hände Gottes. Er wartet. Seine Schwester dagegen gesteht keiner anderen Seele (ich erinnere auch an den Buchautor in der 1. Staffel in Guest) ein gleiches Recht auf Leid ein. Der Verlust definiert sie und sie lässt es auch gerne zu. Sie machte es buchstäblich zu ihrem Job, die verfälschten Vorgänge aufzuklären, um ihr singuläres Leid und das ihrer Leidensgenossen herauszustellen. Das ist stimmig, wie Erika (Regina King) uns bei ihrer Rückkehr erinnert: Sie konnte Evie beerdigen. Sie stellte sich nach dem Tod ihrer Tochter der Wahrheit – im Unterschied zu ihrem Mann – und ihr geht es inzwischen gut. Auch Johns Wohlbefinden würde er wohl selbst als positiv bezeichnen, obwohl seine Reaktion die Wahrheit leugnet. The Leftovers zeigte uns, was wirklich passierte, verurteilt die Leidenden in ihrer Reaktion aber nicht, sondern lässt die Menschen auf unterschiedliche Arten trauern.
Bei Noras Treffen mit Erika bestätigt sich darüberhinaus eine Vermutung der Ärzte: Frau Durst hat sich eigenständig den Arm gebrochen; um ein Wu-Tang Clan-Tattoo zu verstecken, das die Namen ihrer Kinder verdeckte. Als sie heimkehrt und Kevin bei seiner Plastiktütenroutine erwischt (die er vollzieht, um sich “lebendig”“ zu fühlen; nicht, um zu sterben), reagiert sie zunächst verständnisvoll. Quasi “Whatever helps, man”. Dann schlägt Kevin jedoch vor, ein neues Baby zu zeugen. Hier brechen bei Nora nun die Dämme. Sie verfällt in ein herzhaftes, befreiendes Lachen – denn sonst müsste sie weinen. Das Lachen ist zu lange, es schmerzt den verwirrten Kevin zutiefst und ist wohl trotzdem die richtige Entscheidung. Kevin und Nora mögen vielleicht zusammen ganz glücklich sein, doch die beiden sind für sich genommen zwei kaputte Menschen, die für den Rest ihres Lebens versuchen werden, sich wieder zusammenzuflicken. Ein Kind passt dort nicht ins Bild.
Diese Reaktion ist nur eine von Noras dunkleren Seiten, die The Leftovers immer wieder genüsslich hervorbringt. Carrie Coons schauspielerische Fähigkeiten und Noras Weg sind jedoch sympathisch genug, sodass die Serie und Nora die Zuschauer nie verlieren. Deshalb überrascht es nicht, als Nora die Bilder des toten Säulenmanns im Stadtzentrum plakatiert, der öffentlich als “verschwunden” gefeiert wird. Für diesen religiösen Quatsch hat sie keine Zeit. Es ist fies, nahezu ekelhaft. Aber sie kann nicht davon ab. Sie vermag vielleicht ihre eigene Situation nicht zu kontrollieren, doch zumindest anderem Bullshit kann die Luft genommen werden.
Genau deshalb ist der Anruf so interessant. Linn-Baker macht ihr nicht nur ein Angebot, sondern liefert auch Beweise. Wissenschaftler sollen seltene Strahlung (LADR = engl. Ladder = Treppe? Aha!) an Orten des Sudden Departures bestätigt haben. Mit Hilfe einer Maschine, die sich in Australien befindet, soll Nora diesen Spuren dorthin folgen können, wohin ihre Familien und 140 Millionen andere Menschen verschwanden. Völlig zurechnungsfähige Menschen schwören auf die Methode, ihre Bekundungen lässt Regisseur Keith Gordon meisterhaft zu einem Chor himmlischer Stimmen verschwimmen. Ein Ruf, dem man folgen sollte? Das wird sich herausstellen. Zumindest ist es ein Weg, dem sie folgen kann. Und wenn es nur darum geht, anderen das Spiel zu verderben.
Hier könnte die Episode enden, doch The Leftovers gönnt uns noch einen weiteren Epilog aus Down Under. Dieser weitaus längere Einblick in eine ungewisse Zeit mit zwielichtigen Gestalten stellt uns Polizeichef Kevin vor. Der australische Kevin ist ein wenig älter, etwas größer und graumelierter als unser Kevin, doch auch dieser Chief hat es nicht so sehr mit Tieren, seinen Kollegen oder determinierten Frauen aus dem Dorf, die ihre eigene Agenda verfolgen. The Leftovers liebt das Spiel mit den Bildern. Die vier Frauen, die sich Kevin vor dessen Haus gegenüberstellen, werden bewusst metaphysisch als die Apokalyptischen Reiter inszeniert. Später lässt die Serie – wie nahezu immer – das Pendel wieder in die andere Richtung schwingen. Die Frauen, angeführt von Grace, zeigen keine Gnade bei der Umsetzung ihrer wirren Idee: Sie haben nämlich Das Buch von Kevin gelesen und glauben, den heiligen Kevin aus den Jamison’schen Erzählungen gefunden zu haben. Prompt wird dieser dem Test unterzogen und sie müssen erkennen, dass sie den falschen Messias gefunden haben. Der Mann ertrinkt. Ähnlich wie für die adventistische Frau aus der letzten Woche muss dies aber noch nicht das Ende sein: Kevin Garvey Sr. (Scott Glenn) wandelt gerade mitten in der Nacht aus seinem Haus zum Wasserloch und scheint die Ladys zu kennen.
Zitat der Folge: “Everything that matters is up there in the cloud, right?”
– Die Autoren der Folge, Damon Lindelof und Tom Perrotta, wurden übrigens als Tha Lonely Donkey Kong & Specialist Contagious gelistet. Dies sind die offiziellen Namen, die der Wu-Tang Namengenerator ausspuckt. Ich möchte ab sofort bitte nur noch als Fearless Specialist bezeichnet werden.
– Die vier australischen Reiterinnen sind nicht die gleichen vier Frauen, die Kevin kurz vor dem Sudden Departure in Mapleton am Straßenrand begegneten. “Bist du bereit?”, fragten sie ihn damals und fuhren dann suchend weiter. Es wäre vielleicht ein Schritt zu weit für die Serie, die abseits des kosmischen Ereignisses fast immer für die Realität pulsiert – aber wie cool wäre es gewesen, wenn es die gleichen Frauen gewesen wären!?
– Max Richters Klavierversion des Perfect Strangers-Theme war das musikalische Highlight in einer ohnehin grandios unterlegten Folge.
– Dass die Reiterinnen aus dem Buch Kevins zitieren, bestätigt meine Vermutung aus der letzten Folge: Matt hat das bereits alles digitalisieren lassen und verbreitet die frohe Kunde weltweit.