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Kurz vor dem vermutlich schockierenden Finale wagt The Leftovers einen Blick in die Vergangenheit und die Welt vor dem Departure. The Garveys at Their Best ist dabei jedoch ein bissiger Kommentar auf die bereits vorherrschenden Probleme der dysfunktionalen Familie.
Wie alles im Leben hat das Schreiben von Kritiken zwei Seiten. Auf der einen Seite darf man sich außerordentlich intensiv mit einer Serie auseinandersetzen und gewinnt dadurch neue Einblicke oder Erkenntnisse, die ein Werk noch besser oder schlechter dastehen lassen. Auf der anderen Seite jedoch verdirbt man sich bei der Recherche oftmals bereits die ein oder andere Überraschung. Wer die Episodenzahl mancher Figuren oder die Titel zukünftiger Folgen studierte, wird wohl mit einem Flashback gerechnet haben dürfen.
Das macht den Anfang der Folge von The Leftovers aus der Feder von Showrunner Damon Lindelof und Co-Autorin Kath Lingenfelter jedoch nicht weniger spannend. Kevins (Justin Theroux) Heimkehr in ein für den Zuschauer fremdes Haus trägt nämlich die gleiche traumhafte Qualität mit sich wie seine vorherigen schizophrenen Ausfälle. Auch die uns unbekannte Frau, die Regisseur Daniel Sackheim zunächst unfokussiert im Hintergrund telefonieren lässt, könnte zum Beispiel Chief Garveys Affäre sein, bis wir wieder in die Realität zurückgeholt werden. Es ist die dominierende narrative Taktik Lindelofs in dieser herausragenden ersten Staffel: Verwirrung, Spekulation und dann die naheliegende sowie simple, aber zerschmetternde Realität.
Die Lebenswirklichkeit der Figuren vor dem Departure gestaltet sich jedoch trotz des heiteren und vollmundigen Episodentitels mit wenigen Ausnahmen nicht lebensfroher als die kollektive Depression drei Jahre nach dem 14. Oktober 2011. Die Brüche sind bereits hier vor dem Departure zu erkennen und teilweise manifestieren sie sich bereits in Form eines Risses in der Wand oder einem undichten Kaffeebecher in Kevins Realität. Teilweise sehen wir zwar völlig transformierte Figuren wie die junge Jill (Margaret Qualley) als sorgenloser Nyan Cat -Fan mit Zahnspange, die das schauspielerische Talent des Casts verdeutlichen. Diese Momente lassen ihr zukünftiges Selbst und den Eintritt in den Guilty Remnant in der letzten Folge noch deutlicher nachwirken. Doch die restlichen Figuren werden jedoch bereits von einer dunklen Vergangenheit oder einer schwierigen emotionalen Gegenwart geplagt.
So betrinkt sich Tom in der Nacht und sucht seinen biologischen Vater auf, um ihn – vielleicht völlig berechtigt – zur Rechenschaft zu ziehen, obwohl er die vermutlich gewalttätige Familiengeschichte lieber vergessen würde. Seine Mutter, die wunderbare Amy Brenneman, versichert ihm jedoch: Das funktioniert nicht. Sie muss es wissen, denn Laurie war, wie uns das beeindruckende Designerhaus der Garveys verdeutlicht, eine erfolgreiche Psychologin. Doch auch sie ist tief unglücklich. Trotz der All American Family im Traumhaus bröckelt die Fassade. Sie ist schwanger und erwägt wegen der nicht erfüllenden Beziehung zu ihrem Mann eine Abtreibung. Eine ihrer Patientinnen erkennt diesen Zwiespalt sofort: „There’s something wrong inside of you.“ Es ist Patti (Ann Dowd), die Probleme mit ihrem gewalttätigen Ehemann Neil überwinden muss und zur Behandlung ihrer Paranoia, inklusive apokalyptischer Visionen, in Lauries Praxis sitzt.
Nora (Carrie Coon) hat dagegen sehr alltägliche Probleme. Ihre Kinder hören nicht auf sie, der kontinuierliche Stress als Hausfrau und die wenigen kognitiven Herausforderungen machen sie träge. Dazu erfährt sie von ihrem betrügerischen Ehemann keine helfende Hand. Etwas Abwechslung könnte sie beim aussichtslosen Wahlkampf der zukünftigen Bürgermeisterin erfahren, die wohl die Wahl dank des Departures gewonnen haben wird.
Kevin leidet jedoch bereits jetzt am meisten. Sein Vater und seine Frau überschatten ihn beruflich, sodass er sich in kleine Nebenprojekte wie der Suche eines Hirsches hineinsteigert. Ein weiteres Tier hat bereits vor dem Departure sein Unwesen getrieben und die Stadt terrorisiert. Am Abend widmet er seinem Vater bei einer Preisverleihung eine bewegende Rede vor der High Society Mapletons. Überschwänglich betont er die Familienwerte, sein Glück und die tiefe Dankbarkeit. Doch sein Vater durchschaut Kevins Spielchen mit seiner Umwelt und sich selbst und gibt ihm einen guten Ratschlag:
„Every man rebels against the idea that this is fucking it. Fights windmills, saves fucking damsels, all in search of greater purpose. You have no greater purpose. Because it is enough. So cut the shit, okay?“
This Is It
„The Garveys At Their Best“ ist wahrhaftig eine großartige Folge von The Leftovers, die sehr nuanciert die alltäglichen Plagen der Einwohner darstellt. Das Panorama der amerikanischen Vorstadt in dieser Folge unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht allzu stark von den Szenarien anderer Serien. Doch unter der Oberfläche schlummert ein tiefes Misstrauen und ein nicht näher zu fassendes Unbehagen – die Figuren können es aber fühlen. Einige stärker als die anderen, aber irgendwo versucht jeder mit der Sinnlosigkeit unserer Existenz klarzukommen. Einige stürzen sich in den Beruf, andere ins Familienleben. Am Ende ist jeder irgendwo unzufrieden, ohne einen tieferen Sinn in alledem gefunden zu haben. The Leftovers wagt den mutigen Schritt und schaut hinter die Fassade und entblößt die Leere. Wieso daher einen Plot vortäuschen?
Kevins Vater diagnostiziert seinem Sohn also keine direkte temporäre Midlife-Crisis, sondern vermittelt die grundlegend frohe Botschaft, dass es reicht, wenn man am Leben ist. Was bleibt denn sonst übrig? Man verschwindet mit dem Rest der 2 Prozent und dann ist man ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen weg vom Fenster. Trotz der vielen offensichtlichen und an anderer Stelle eher subtilen Spielchen mit Religion und Spiritualität schmiedet Damon Lindelof in seiner Serie ein tief atheistisches und nihilistisches Bild unserer Existenz. Es deutet sich schon vorher an: Auf die Frage Noras, ob die Verschwundenen an einem besseren Ort seien, lautet die Antwort schlussendlich “Nein”.
Der einzige Ausweg aus der Konfrontation mit der Sterblichkeit? Entweder man findet sich wie die Mitglieder des GR damit ab oder macht sich weiter etwas vor, wie Kevin Tom rät: „Sometimes you have to pretend.“ Und Kevin folgt seinem eigenen Vorschlag genauestens: Er gibt vor, mit seinem Familienleben und seinem Job glücklich zu sein und mit dem Rauchen will er auch aufgehört haben. Manchmal funktioniert es, aber völlig glücklich stimmt ihn das auch nicht. Es führt ihn zu dunklen Orten, Sünden und Schuldgefühlen. Er ist kein guter Mann, dieser Kevin Garvey, und er weiß es.
Andere Kritiker oder auch der bekannte Drehbuchautor und Podcastguru John August haben erwähnt, dass sie sich diese Folge auch früher gewünscht hätten, doch ich bin höchst zufrieden mit der Platzierung der Folge innerhalb der Staffel. Theoretisch hätte man die Folge bereits in abgewandelter Form vorher ausstrahlen können, doch die Folge so kurz vor Schluss zu bringen, verdeutlicht nicht nur, dass das Leben, dem viele Figuren in den vorherigen acht Folgen nachtrauern, gar nicht so toll war. (Mit der Ausnahme von Jill vielleicht.) Der bisherige Aufbau gibt dem Leiden auch Bedeutung. Die Inszenierung des Departures von Daniel Sackheim mit der musikalischen Untermalung von Max Richter ist atemberaubend. Es handelt sich um eine Sequenz, die in ihrer Tragik, Schönheit und Nuance kaum hätte besser gedreht werden können und sie funktioniert vor allem, weil wir wissen, was genau in diesem Moment in vielen Figuren zu Bruch geht und wieso sich andere bestärkt fühlen.
Steven Zeitchik schrieb vor Kurzem in der LA Times über den Aufstieg des Post-Plot Cinema am Beispiel von Guardians of the Galaxy. Vielleicht ist es an der Reihe The Leftovers als das aktuelle Serienäquivalent zu definieren. Die erste Staffel übertrifft sich von Woche zu Woche, ein Panaroma der Bedeutungslosigkeit aufzuzeichnen. Die Gesellschaft wirkt leer, verwirrt und ziellos. Im Kontrast dazu gibt es einzelne Folgen, die uns das Schicksal einiger Individuen zeigen und als Beispiel für gute Charakterzeichnung dienen. Ein naheliegender Kritikpunkt jedoch wäre, dass dies trotzdem auf nicht viel hinausläuft – was wiederum genau der Punkt der Serie ist. Stanley Kubrick hat einmal im Interview mit dem Playboy bei einer Diskussion von 2001 gesagt: “The most terrifying fact about the universe is not that it is hostile but that it is indifferent; but if we can come to terms with this indifference and accept the challenges of life within the boundaries of death — however mutable man may be able to make them — our existence as a species can have genuine meaning and fulfillment. However vast the darkness, we must supply our own light.”
Der Departure ist damit nur ein nicht zu leugnender Beleg. Die Menschen mögen es unterschiedlich interpretieren, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass es keinen tieferen Sinn gibt. Schlussendlich zeigt uns The Garveys At Their Best, dass das Beste eigentlich gar nicht so gut ist. Aber es ist genug. Die Verrückten („Are you ready?“) gibt es bereits vorher, nach dem Departure erhalten sich nur neuen Zulauf. Kevin hat bereits vor dem Departure Visionen, doch am Ende gibt es für alles eine plausible Erklärung. Die christliche Erscheinung des Hirsches ist am Ende nur reflektierende Plastikfolie im Geweih. Zufall und Chaos beherrschen diese Welt. This is it. God is dead. Don’t freak out.
Zitat der Folge: “The foot feels the foot when it feels the ground.”